Von Enden und Anfängen

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Ein funkelnder Kronleuchter, besetzt mit hundert Kerzen, bildete die einzige Lichtquelle in den Mauern der Wallhalle, deren Steinwände weit in die Finsternis reichten. Hier im untersten Stockwerk, wenige Meter über der Brandung, die mit aller Kraft gegen das Bauwerk anrollte, fand die Abschlusszeremonie statt, in deren Verlauf rund 40 junge Menschen die Lizenz zum Erzählen erhalten würden.

Zum größten Teil bestand die Gesellschaft aus Familien, Freunden und ranghohen Epiern, sowie den Mentoren. Aber es gab auch immer Neugierige, die einfach wissen wollten, mit welchen haarsträubenden Abenteuern sie in Zukunft zu rechnen hatten und wessen Tagträumereien den Inselbewohnern erspart bleiben würden. Die Ankunft der Novizen und Novizinnen war bereits überfällig, was allerdings niemanden wirklich störte. Umso mehr Zeit konnte man an dem üppigen Buffet zubringen, alte Feind- und Freundschaften pflegen oder neue Kontakte knüpfen, die hoffentlich die eigene Karriere weiterbringen würden.

Die Leute am Türende des Saals hörten es zuerst. Das Echo unzähliger Füße, die teilweise unter asthmatischem Keuchen, angeführt von einem dicken Holzstab in den Händen der alternden Zeremonienmeisterin, die vielen Treppen im Inneren des Walls heruntermarschierten, wurde immer lauter. Gleichzeitig verstummten die oft lautstark geführten Unterhaltungen und die Menge teilte sich recht ungleichmäßig, da die meisten die eine oder andere Knabberei gerne in Reichweite hatten. Auf der Kopfseite der Wallhalle versammelten sich Lehrer und Abgesandte der verschiedenen Regionen. Einige Gebiete waren sogar doppelt vertreten, da die Machtverhältnisse derzeit schneller wechselten als mancher seine Unterhosen. Zu solch wichtigen Anlässen beschränkte man sich auf finstere Blicke, duldete aber einander. Alles andere hätte auch zum Ausschluss geführt. Da kannten weder der Bürgermeister der Stadt Cruk noch die oberste Sekretärin von Zerun'a irgendwelche Skrupel.

Das Trappeln schwoll an und ein paar Gehilfen wuselten noch durch die Reihen, um eine letzte Runde an Getränken auszuschütten oder zusätzliche Kerzen anzuzünden. Dann herrschte auf beiden Seiten der wuchtigen Holztür absolute Stille. Nur die Stimme der Zeremonienmeisterin, die noch ein paar letzte Worte an ihre Schützlinge richtete, war zu vernehmen: „So, das ist die letzte Gelegenheit zum Naseputzen, Frisurrichten oder Austreten. Danach dulde ich keinerlei Störungen, es sei denn der betreffende will noch einen letzten Schluck vom „garstigen Gesöff der Bestrafung" genießen. Für diesen Fall habe ich immer eine Flasche bei mir... Also können wir?"

In der Wallhalle explodierte aufgrund dieser Ansage ein wahres Feuerwerk an Mimik. Wer die Lehrerin noch aus der eigenen Schulzeit oder vorherigen Abschlussfeiern kannte, grinste wissend und nickte selbstgefällig. Die Prominenz seufzte entweder aus nostalgischer Sympathie oder Resignation, weil ihre Belehrungen bei der betagten Dame seit Jahren auf taube Ohren stießen. Einer Reihe von neuen Zuschauern stieg die Schamröte ins Gesicht, während sie mit offenen Mündern zur Tür glotzten, deren Flügel langsam aufgeschoben wurden.


Vorneweg schritt die Zeremonienmeisterin, deren Stab sie noch um mindestens zwei Köpfe überragte. Ihr graues Haar stand in einer wilden Igelfrisur ab und bildete einen geschmackvollen Kontrast zum traditionellen Gewand, das am Kragen blütenweiß das Licht reflektierte und an Saum und Ärmeln in ein saftiges Limonengrün überging. Die breiten Schärpen fielen leicht gewellt herab, symbolisierten den einzigen Fluss Epiens, der im Gebirge entsprang und sich über die ganze westliche Ebene ausbreitete. Den Rückenteil zierte das Wappen der Erzählerschule: Die silberne Feder, an deren Spitze sich ein Tropfen goldener Tinte klammerte.

Gemessenen Schrittes strebte sie durch die Halle, den Kopf hoch erhoben und knallte mit jedem zweiten Schritt den Stock kräftig auf den Steinboden, dass es im ganzen Saal widerhallte. Die Absolventen - allesamt circa 18 Jahre – jedoch warteten am Eingang, bis sie ihren Platz auf der Bühne eingenommen hatte und zunächst die gesamte Lehrerschaft zu sich rief. Sie ließ sich viel Zeit, während die Menge zunehmend unruhig wurde. Dann endlich waren alle ordnungsgemäß platziert und die Meisterin erhob sich aus ihrem Sessel, streckte ihren Arm in einer gezierten Geste Richtung Decke, damit jeder die Feder zwischen Mittel- und Zeigefinger sehen konnte. „Dies", intonierte sie mit theatralisch rauer Stimme, „ist der Anfang vom Ende!"

FederlesenWhere stories live. Discover now