Die Jagd beginnt...

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Die schwere Eisentüre am Eingang wurde aufgeschoben. Das grässliche Quietschen und Scharren hallte in der ganzen Grotte wieder und riss Majorana aus einem unruhigen Schlaf. Ein schwarzgekleideter Mann, der ein übertrieben prunkvolles Kruzifix um den Hals trug, trat an die Gitter, musterte sie von oben herab und gab den Wachen einen Wink. Sie stürmten hastig in die Zelle. Die Gefangene kauerte umgeben von gepanzerten Stiefeln, die um und über sie drängten. Eine Hand riss sie grob auf den Rücken, jemand kniete auf ihren Schultern, zerquetschte ihr dabei fast die immer noch  gefesselten Arme. Auch ihre Beine wurden festgehalten. Sie brüllte und wand sich vergeblich. Panik explodierte in ihren Synapsen, sie barst beinahe vor Angst. Eine weitere Hand erschien in ihrem Blickfeld, näherte sich dem Kopf. Sie biss zu, fing sich eine Ohrfeige. Man drückte ihren Kopf zwischen Schraubstockknie, hebelte ihren Kiefer auseinander und flößte ihr eine Flüssigkeit ein. Wenige Sekunden später hatte Müdigkeit sie übermannt und beförderte sie in tiefen Schlummer.

Noch während die Wachen sich die Bewusstlose unter die Arme klemmten, oben letzte Hand an den Scheiterhaufen gelegt wurde und weitere Soldaten das Publikum zusammentrieben, näherten sich Ylaine und Renoir dem Ort des Geschehens, wissend, dass der kurze Aufenthalt in der Kirche sie viel Zeit gekostet hatte, womöglich zu viel.

Man band Majorana stramm an den Pfahl, die nun unfreiwillig in die Rolle der Angeklagten schlüpfte, die man eigentlich der Liebhaberin des ehemaligen Herrschers zugedacht hatte... als ultimativer Triumph sozusagen. Auch Renoirs Rolle war anscheinend anderweitig besetzt worden, denn auf dem Richtplatz erschien eine schwarzgekleidete Person, in der Hand die Bibel, auf dem Mund ein sadistisches Lächeln. Die Überlebenschancen der jungen Frau schienen endgültig auf null gesunken zu sein.

Die Menge lauschte neugierig und verwirrt, während der falsche Inquisitor in Schnellfeuermanier einen Anklagepunkt nach dem anderen auf das Opfer abschoss, den Finger zuerst auf sie und dann auf den Himmel gerichtet, wie in Erwartung eines göttlichen Donnerschlags. Nach dieser Rede herrschte gespannte Ruhe. Zu hören waren nur Wagenräder und Hufgetrampel. Als der aus den Augenwinkeln die Kutsche herannahen sah, sprach er hastig das Urteil und riss dem zögernden Henker die Fackel aus den Pranken, um selbst in Windeseile das Feuer unter der betäubten Majorana zu schüren.

Die beiden Reisenden hatten soeben die ersten Häuser erreicht, als sie aus der Kutsche heraus die riesige Versammlung auf dem Marktplatz erspähten. „Es hat bereits begonnen", grummelte Renoir, ließ den Kutscher die Pferde antreiben. Ylaine konnte eine dünne Rauchschwade ausmachen, die sich bald aufbauschte. Flammen loderten auf einem Podest. „Aber ...", keuchte sie, während sie das Puzzle zusammensetzte, „sie wollen jemanden verbrennen! Das darf nicht sein!"

Sofort schossen ihr die Gerüchte und die Toten aus Majoranas Erzählung in den Kopf. Das Gespann preschte voran, direkt auf die Menge zu, die sich sofort teilte. Mittlerweile brannte der Scheiterhaufen lichterloh. Einige Hauptprotagonisten stahlen sich bereits davon. Es roch nach verbranntem Fleisch und als kurz eine Bö das Flammenmeer teilte, sah Ylaine den blauen Haarschopf aufflimmern. Sie sprang ab, als die Kutsche dem Inferno am nächsten war, direkt hinein. Doch sie musste zurückweichen, da in der Hitze alles zu verglühen schien. Jemand zog sie am Kragen heraus und schleppte sie prustend ein Stück zur Seite, damit die Dorfbewohner an den Scheiterhaufen herankamen, die mittlerweile eine Eimerkette gebildet hatten und den Brand löschten.

Ylaine wollte nicht warten. Eine Bewegung, die sie mehr spürte als sah, ließ sie wieder aufspringen und Richtung Waldrand hetzen. Dort hatte sich etwas bewegt. Vermutlich einer der Protagonisten oder gar der unrühmliche Erzähler in Person, der glaubte, er würde damit durchkommen. Wie sehr er sich täuschte, dachte Ylaine, die zum Spurt ansetzte, um den nunmehr Flüchtenden zu verfolgen. Zum ersten Mal verspürte sie den tobenden Hass, der alle anderen Signale überdeckte. Wortlos wühlte sie sich durch dichtes Gestrüpp, sprang über Baumwurzeln und sah mit den Ohren. Jedes Knacken und Rascheln diente als Wegweiser. Ihr Vordermann kam nur langsam vorwärts, musste sich noch mehr anstrengen als sie, um nicht hängen zu bleiben. Manchmal erhaschte sie einen Blick auf den Schemen. Doch er verschwand immer wieder hinter grünen Vorhängen. Ihre Kräfte ließen trotz Jagdfieber nach, der Abstand wuchs wieder.

Dann brach sie durch eine letzte Wand und fand sich auf einer Lichtung wieder. Sie griff nach ihrem Messer. Der Flüchtende lief ungeschützt, hatte lediglich die Mitte erreicht und sie konnte ziemlich gut zielen. Ein dumpfer Schmerz am Hinterkopf kappte die Verbindung zwischen Körper und Bewusstsein.

Als sie aufwachte, wirbelten die letzten Minuten durch ihre Gedanken und im Auge des Sturms tauchte Majoranas blauer Haarschopf zwischen tosenden Flammen auf. Sie versuchte sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Unter ihr schwankte der Boden. Die Nacht senkte sich bereits über den Wald, aus dem unbestimmte Geräusche drangen. Die Bäume zogen gemächlich an ihr vorbei.

Allmählich dämmerte ihr, dass sie huckepack getragen wurde. Der dunkelhaarige Hinterkopf gehörte zu Ronen.

Als er merkte, dass sie wach war, blieb er stehen, um sie abzusetzen. Sie hielt sich nicht mit einer Begrüßung, geschweige denn einem Danke auf, sondern kam direkt zur Sache: „Habt ihr ihn?"

„Tut mir leid...", Ronen schüttelte bedauernd den Kopf, „Du warst anscheinend auch nicht erfolgreicher. Hast du ihn wenigstens erkannt?"

Ylaine hob resigniert die Schultern und wollte weitergehen. Benommen setzte sie einen Fuß vor den anderen, musste anhalten. Alles drehte sich, aber nur kurz. Skeptisch beobachtete er die unsicheren Gehversuche und beschloss schließlich, sie auf wieder auf dem Rücken zu tragen.

„Keine Diskussion, du bist fertig."

Es dauerte noch rund 10 Minuten, bis sie das Dorf erreichten. Die Bewohner wuselten emsig durch die Gegend und beseitigten die Überbleibsel der Tragödie. Das Plappern, das normalerweise den Marktplatz erfüllte, nur übertönt von den Händlern, war verstummt. Einzig knappe Befehle und schwermütige Seufzer entwischen von Zeit zu Zeit den versiegelten Lippen.

Mit wehendem Umhang, den Hut mit einer Hand festhaltend, lief Renoir ihnen entgegen und hob Ylaine herunter, um sie zur Kutsche zu begleiten. Auf dem Weg sah sie sich gründlich um, in der Hoffnung Majorana irgendwo zu entdecken. „Was ist mit dem Mädchen?", erkundigte sie sich mit einem bangen Zittern in der Stimme. Renoir zuckte die Achseln und verzog sich schweigend auf den Kutschbock. Erst jetzt fielen ihr die Bandagen um die Hände auf. „ Marianna Josephine Ramira Nathalia wurde ins Krankenhaus gebracht. Ob sie es schaffen wird, wissen wir allerdings nicht. Sie liegt im Koma."

Heiße Wut brodelte, weckte dabei den Gerechtigkeitssinn, einen cholerischen Erbsenzähler, der sich in diesem Moment mit Hilflosigkeit ins Schlafgemach verziehen wollte. Noch während die Platzwunde am Kopf behandelt wurde, traf sie eine äußerst noble, wenn auch unüberlegte Entscheidung. „Ronen", verkündete sie bitterernst, „richte der Sekretärin aus, dass ich vorerst bei Renoir bleibe. Er kennt sich in der Gegend aus. Kennt die Gepflogenheiten und Ränkespiele. Er kann mich eher auf die Spur dieser Verbrecher führen."

Der Inquisitor auf dem Kutschbock gab ein Schnauben von sich, das man entweder als heftiges Zweifeln oder resignierte Ergebenheit deuten konnte, verkniff sich jedoch jeden weiteren Kommentar. Ronen dagegen starrte einfach geradeaus und brabbelte, dass er nicht wisse, ob man den Vertrag so einfach auflösen könne. „Ich werde nachfragen", versprach er, doch es schien ihm offenbar ganz und gar nicht zu behagen. Inzwischen ratterte die Kutsche wieder über die enge Gasse, die man in „Filet den Daak" „Huuptstraaten" getauft hatte.

„Ylaine", flüsterte Renoir, der wohl schon mit weiteren heftigen kulturellen und juristischen Maßnahmen rechnete, „wenn du wirklich bleiben willst, halte dich bitte mit Anschuldigungen etc. zurück, selbst wenn du einen der Schuldigen wiedererkennen solltest. Wir sind hier in der Unterzahl. Und bitte verstecke deinen Zopf wieder unter einer Kappe oder einem Tuch!"

„Ja, Eure Exzellenz", knirschte sie gereizt. Vor dem Wirtshaus „Zum smakje Matjes" hatte sich mal wieder der Bürgermeister in der Hoffnung postiert, beim Sohn der Sekretärin einen schleimigen Eindruck zu hinterlassen. Natürlich war er bestürzt über die Ereignisse und selbstverständlich hatte man den Gästen bereits die besten Zimmer hergerichtet, die zweifelsohne zusammen mit einer erstklassigen Mahlzeit von der Gemeinde bezahlt wurden. Die Danksagung übernahm der Inquisitor und bald saßen sie stillschweigend am Tisch. Obwohl der Hunger sich in Grenzen hielt, löffelte jeder brav die durchaus schmackhafte Suppe.

Anschließend entschied man sich in stillem Einvernehmen fürs Schlafengehen. Ylaine bat noch um einen Badezuber, Seife und Handtuch, schleppte sich hoch und sperrte wenige Minuten später die Tür zu. Das Wasser dampfte, Spiegel und Fenster beschlugen. Doch im Gegensatz zur Hitze des Feuers, kam ihr das Bad beinahe lau vor. Ylaine entkleidete sich, sank erschöpft in die Wanne und entflocht ihr langes Haar, das fast die ganze Wasseroberfläche bedeckte, als sie den Kopf untertauchte.

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