Enthüllungen

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Plötzlich spürte Nigel Ylaines Blick im Nacken. Als er sich umdrehte, blickte sie ihm erwartungsvoll und mit finsterer Miene entgegen. Die Erinnerung an Ylaines Messer in seiner Hand wog schwer, zog ihn hinab. Seine Glieder zitterten, während er zurückwich und gleichzeitig versuchte den Blicken der anderen standzuhalten.

„Am besten du fängst am Anfang an", ließ sie sich die Sekretärin nach einer Weile vernehmen und legte den Stift beiseite. Als sie sich genüsslich zurücklehnte und mit ihren kurzen, schwarzen Haaren spielte, wusste er, dass seine einzige Chance die Wahrheit war. „Am Anfang", murmelte er und kramte in seinem Gedächtnis. Wo hatte es angefangen? Ach ja...

"Mein Vater hat sich von meiner Mutter getrennt, als ich etwa 10 war. Ich durfte ihn regelmäßig besuchen. Kurze Zeit später verliebte sie sich in meinen Stiefvater. Anfangs war alles eitel Sonnenschein, doch es stellte sich heraus, dass er ein eifersüchtiger Psycho war. Er fing an meine Mutter zu quälen und mich zu schlagen. Sie war zu verängstigt, um etwas zu unternehmen. Eines Tages, als sie mal wieder heulend in der Ecke lag, hatte ich eine Erkenntnis. Wenn sie uns beide schon nicht beschützen konnte, musste ich das halt erledigen. Ich bedrohte meinen Stiefvater mit einem Küchenmesser. Er überwältigte mich und sperrte mich ein. Fortan verdrosch er nur noch Mutter, meist direkt vor meiner Zimmertür. Und sie sagte nie etwas. Wenn sie mir Essen brachte, ignorierte sie mich, als gäbe sie mir die Schuld an ihrem Leid. Irgendwann platzte mir der Kragen und ich hangelte mich nachts aus dem Fenster in das Schlafzimmer der beiden. Mein Stiefvater hatte sich auf meiner Mutter ausgebreitet. Immer wieder schlug er sie, würgte sie manchmal... Ich glaube Mutter war bereits halb tot...

Was meinen Vater anbelangt: Ich wollte Rache. Er sollte winseln, mich windend um Gnade anflehen. Doch er fing an zu brüllen. Ich musste ihm ein schnelles Ende bereiten, sonst hätte er die Nachbarn auf den Plan gerufen.

Aber niemand schien etwas bemerkt zu haben. Ich begrub meine Eltern heimlich in einem Waldstück außerhalb der Stadt. Fortan lebte ich alleine. Doch ab und zu braucht man halt etwas Spaß. Ich besuchte einen entsprechenden Club und setzte mich für eine Weile an die Bar. Mir fiel eine Frau auf, die genau den gleichen Ausdruck in den Augen hatte, wie Mutter zuletzt. Das machte mich neugierig und ich ging mit ihr auf ein Zimmer. Ich wollte, dass sie sich wehrte. Ich wollte sie dazu bringen, endlich was zu tun... Ich mein, das ist doch... Ich konnte es nicht fassen als sie irgendwann tot auf dem Bett lag. Können Sie das glauben? Ihr Zuhälter zeigte mich schließlich an, nachdem er mir ordentlich das Fressbrett poliert hatte... Aber wahrscheinlich nur, weil er nun kein Geld mehr mit ihr verdienen würde."

Irgendwie tat es gut, sich all das von der Seele zu reden und so fuhr er fort.

"Nach einigen Zeugenaussagen, Sichtung des Beweismaterials, Plädoyers und was noch dazu gehörte, zog sich das Gericht zur Beratung zurück. Wie erwartet lautete das Urteil Tod. Kurz bevor ich meinen letzten Gang antrat, geschah etwas Merkwürdiges. Man wollte mich in ein anderes Gefängnis verlegen. Auf dem Weg wurden wir offensichtlich überfallen und ich wurde für einige Stunden ins Land der Träume geschickt.

Ich wachte in einer anderen Zelle an einem unbekannten Ort auf. Mittlerweile weiß ich, dass es sich dabei um das Gefängnis in diesem vermaledeiten Kaff handelte. Dort hockte ich ein paar Tage bei Wasser und Brot, bis schließlich ein Kapuzenmensch mit Buch unterm Arm meine Zelle betrat. Er drohte mir allen Ernstes Folter an. Also blieb mir nichts anderes übrig, als zu allem ja und amen zu sagen. Am Ende des Verhörs, verkündete der Inquisitor-Typ, dass man mich unverzüglich hängen werde und betonte, dass mir mein rasches Geständnis zu einer geläuterten Seele verhelfen werde und ich mich glücklich schätzen dürfe. Schließlich hätte man mich auch bei lebendigem Leib verbrennen können. Der Galgen am Dorfplatz war schon vorbereitet und es hatten sich eine Menge Schaulustiger versammelt..."

„Würdest du die Drahtzieher erkennen?", unterbrach die Sekretärin die Erzählung.

Irgendetwas an ihr gefiel ihm plötzlich noch weniger als zuvor. Also ließ er sich lediglich zu einem unwissenden Schulterzucken hinreißen. Damit schien sie jedoch nicht wirklich zufrieden zu sein, lenkte das Thema dennoch in eine andere Richtung und sprach Ylaine an, die Mühe hatte vor Erschöpfung nicht einzuschlafen. „Ylaine, erzähl mir bitte, wie du ihn gerettet hast." Mittlerweile konnte Nigel sich denken, dass dies ein längerer Vortrag werden würde und sie würde schonungslos ehrlich sein.

Sie berichtete von der Einladung, die sowohl Renoir als auch sie erhalten hatte und wie sie auf getrennten Wegen zum Dorf aufbrachen. Zu Beginn lauschte er fasziniert, doch ihre Ausführung näherten sich unaufhaltsam dem kritischen Punkt: „Wir flohen in Richtung Wald. Irgendwann hatte ich einfach keine Kraft mehr und rutschte seitlich vom Pferd. Plötzlich spürte ich die Klinge meines eigenen Messers an der Kehle..."

Plötzlich krachte etwas im Zimmer der Sekretärin. Nigel duckte sich erschrocken, als ein Hocker haarscharf an seinem Kopf vorbeiflog und an der Wand zerschellte. Ronen stürzte wutschnaubend auf ihn zu. Doch die Sekretärin reagierte überraschend schnell und drängte sich zwischen die beiden, drückte ihren Informanten an sich. „Dieses Monster hätte den Tod verdient", brüllte ihr Sohn und schubste seine Vorgesetzte unwirsch beiseite, blieb jedoch stehen, wo er war. „Warum hast du ihn nicht baumeln lassen, Ylaine?"

„Weil er der einzige Zeuge ist, der die falschen Erzähler ans Messer liefern könnte, mein Lieber. Nur deswegen hat sie diesen niederträchtigen, undankbaren Mörder mit ihrem Leben beschützt", erklärte die Sekretärin und nahm wieder in ihrem Sessel Platz. Mit einem Blick auf Ylaine, die auf ihrem Stuhl zusammengesunken war und sich kaum noch wach halten konnte, beendete sie das Verhör vorerst. Sie wies einen Bediensteten an, ihnen Zimmer im Gang zuzuweisen und einen Arzt zu holen, der noch einmal nach Ylaines Wunden schaute. Außerdem erwartete sie noch Besuch.

Einige Minuten später klopfte es erneut an der Tür, doch der Besucher wartete nicht erst auf die Erlaubnis der Sekretärin und rauschte sofort herein. „Sylvia, meine Liebe! Was hast du herausgefunden?"

Der Mann mit dem grauen Vollbart hauchte ihr einen Kuss auf die Wange und fläzte sich in den Sessel. Als sei er hier zu Hause, wies er einen Bediensteten an Kaffee zu kochen und ihm eine Pfeife und den besten Tabak zu bringen. Die Gastgeberin lächelte besorgt, während der Butler alles arrangierte und einen Stapel Dokumente hereinbrachte, heimliche Mitschriften des Gespräches von eben. Mit einer tiefen Verbeugung überreichte er selbige Sylvia, die sie sofort an den Besucher weitergab. Eine Weile las er schweigend, nickte von Zeit zu Zeit, nur um kurz darauf wieder den Kopf zu schütteln. „Sie hat die ganze Geschichte verdorben, meine Liebe. Eigentlich sollte es das dritte Opfer sein, ihre wahre Liebe und nicht dieser dahergelaufene Schwerverbrecher. Wir müssen ihn endlich um die Ecke bringen. Anschließend kommt sie selbst vor die Inquisition."


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