Verhaftet

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Ruppige Anweisungen und undefinierbare Geräusche weckten Nigel, der sich zunächst den dröhnenden Kopf hielt und versuchte die jüngsten Ereignisse zu einem klaren Bild zusammenzupuzzeln. Allerdings waren die Bemühungen derzeit nicht von Erfolg gekrönt. Also schaute er sich erst einmal um und tastete vorsichtig den Boden ab.

Staug, Erde und Steine waren das Erste, was er sah. Dann entdeckten seine Augen etwas, das eindeutig nicht geröll- oder steinartiger Natur war. Bröckchenweise kehrten Erinnerungen zurück und er stolperte auf den staubbedeckten Körper zu, wurde jedoch von einem stark beharrten Arm abgefangen, der ihn zurückzog und nachdrücklich an eine Wand lehnte. Eine Sanitäterin eilte bereits an Nigel vorbei, auf die Gestalt zu, die sich weder rührte, noch auf Ansprechversuche reagierte. Während sie kurz darauf zusammen mit einem weiteren Arzt um die Patientin herumkroch und ihm die Sicht versperrte, bauten andere Leute etwas auf, das wie eine Liege aussah.

Sie wurde an einer Schiene befestigt, die senkrecht am Grabenrand entlang zur Erdoberfläche führte. Dieses Land war einfach bekloppt. Inzwischen war Ylaine... so lautete der Name des Mädchens... aus dem Schutt befreit worden und man trug sie vorsichtig zu dieser komischen Vorrichtung. Schließlich lag sie dort mit aufgesprungenen Lippen und bleich wie der Tod persönlich. Nigel verspürte plötzlich längst Verdrängtes, das er seit langer Zeit für erloschen gehalten hatte.

Ylaine! Wie auf ein geheimes Stichwort schien in seinem Hirn ein Schalter umgelegt worden zu sein. Schlagartig sah er alles wieder vor sich, gestochen scharf und mit einem äußerst fiesen Beigeschmack.

Während die Trage mit Ylaine langsam hinaufschwebte, schnallte man ihn fest und schickte das Gefährt ebenfalls auf die Reise. Was auch immer jetzt passieren mochte, diesmal würde sie ihn nicht herauswinden können. Seltsamerweise machte er sich jedoch weniger Sorgen um sich als um die junge Frau. Er fragte sich warum?

Das lag womöglich an der Tatsache, dass er alle Menschen für potentielle Arschlöcher hielt... sich selbst eingeschlossen. Mitgefühl wurde meistens missbraucht und wenn man jemandem etwas bedeutete, verhieß das nichts weiter als einen wunden Punkt in der Verteidigung. Also warum war es Nigel nicht egal, ob sie das Ganze überlebte? Er sollte froh sein, wenn er weg kam.

Automatisch hob er die Hand zum Hals, fuhr mit den Fingern über die Haut, wo er immer noch die Striemen des Stricks zu fühlen glaubte. Sie hatte ihn vor dem sicheren Tod bewahrt. Ylaines langes, orangefarbenes Haar fiel über den Rand des Liftes. Er beobachtete, wie sie sanft emporschwebte und vom Ärzteteam oben empfangen wurde. Wenn sie aufwacht, nahm er sich vor, muss ich mich bei ihr entschuldigen.

Das Bild einer anderen Frau weit weg von hier, stieg in ihm hoch. Sie lag auf dem Boden und starrte einfach nur an die Decke, während ein monströser Schatten immer wieder auf sie einschlug. Sie wartete einfach auf das Ende wie ein Lamm auf den Schlachter. Es schaute seinen Henker mit treuen, verständnislosen Augen an und blökte herzerweichend, aber es trat nicht aus...

Nigel stieg in einen Polizeiwagen, wo jemand seine Wunden versorgte. Dann fuhren sie los, zunächst hinter dem Krankenwagen mit Ylaine an Bord her. Niemand hielt es für nötig, das Ziel preiszugeben. Die ersten Ausläufer der Hauptstadt zogen am Fenster vorbei und Nigel glaubte schon, endlich so etwas wie bekanntes Terrain zu betreten. Dann schaute er sich die Gebäude genauer an. Sie bestanden fast ausschließlich aus Solarflächen und auf vielen der flachen Dächer wuchsen richtige Wälder aus Windrädern. Durch die Straßen rollten oder schwebten die merkwürdigsten Fahrzeuge.

Er kam sich vor, als wäre er schnurstracks in den Traum eines ausgeflippten Ökophysikers mit einer Schwäche für Roboter geraten. Denn auch die gab es haufenweise und in allen erdenklichen Versionen. Manche waren verkleidete Menschen, aber man konnte sie nur mit Mühe von anderen Blechhaufen unterscheiden. In regelmäßigen Abständen führten Brücken von einem Bürgersteig zum nächsten über die Fahrrinnen, durch die auf der einen Seite Magnetbahnen, auf der anderen Seite kleine Wagen sausten. So würde es wohl aussehen, wenn Venedig trockenlag.

Der Wagen bog urplötzlich ab, während der Krankenwagen im Verkehr verschwand. „Was soll denn der Mist?", brüllte Nigel, die Fäuste geballt. Ohne Ylaine, die hier lebte und die epianischen Gebräuche kannte, fühlte er sich zu Recht aufgeschmissen. „Du bist vorläufig festgenommen", erklärte ein Beamter kurzangebunden.

„Was hab ich denn getan?"

„Du wurdest in Begleitung einer Person aufgefunden, die durch eine Schusswaffe verletzt wurde. Entweder du steckst da mit drin, dann hast du ein Problem oder du bist selbst ein Opfer und dann möchte ich - man hört ja so einige Gerüchte - auf keinen Fall in deiner Haut stecken. Schusswaffen sind strengstens verboten. Ausnahmen bilden höchstens Farbgewehre, wenn sie für eine Geschichte erforderlich sind. Hier kommt niemand an echte Waffen ran, außer er gehört zu einer authorisierten Einheit. Zumindest nicht auf legalem Weg."

Der Beamte holte tief Luft, schaute ihn bedeutsam durch den Innenspiegel an.

„Allerdings scheint es mittlerweile Leute zu geben, die sich in großem Stil über die Gesetze Epiens hinwegsetzen. Man munkelt, es gäbe Verbündete in höchsten Reihen. Also entweder du hast eine Waffe benutzt und da du garantiert kein Beamter bist, wäre das unter Höchststrafe zu ahnden oder aber Bewaffnete sind hinter euch her gewesen..."

Keine Waffen? Nigel fragte, wie das denn gehen sollte. Ein Land ohne scharfe Waffen wirkte undenkbar, grotesk, naiv und paradiesisch. Der Polizist wartete vergeblich auf eine Antwort und fuhr mit seinem Vortrag fort.

„Wir leben hier gewaltfrei miteinander. Die Bewohner Epiens achten oftmals selbst darauf, dass Konflikte nicht eskalieren und wer versucht sich über unsere Gesetze hinwegzusetzen, findet keinen ruhigen Platz auf dieser Insel."

„Aber mir kam zu Ohren, dass die Realität anders aussieht", stichelte Nigel. Dieser gutgläubige Optimismus war doch nicht aushaltbar.

„Ja, es gibt wohl so etwas wie eine Mafia, die nicht nur mit echten Waffen handelt, sondern auch verbotene Geschichten organisiert. Und genau da kommen du und deine kostümierte Freundin ins Spiel. Ihr kennt bestimmt Details, die uns bei den Ermittlungen weiterhelfen."

Die Details waren durchaus bekannt, leider. Nigel wusste sogar mehr als dieses kleine Licht, das im Trüben fischte. Schließlich konnte man jemandem, der bald eh nicht mehr plaudern würde, seine finstersten Geheimnisse anvertrauen. Zum Glück war Ylaine schneller gewesen. Er seufzte und rieb sich die pochende Stirn. Er hasste diese verrückte Welt - nicht nur, weil sie alles daransetzte, ihn um die Ecke zu bringen. Er hasste sie vor allem, weil man nicht von heute auf morgen planen konnte, nicht einmal von einer Minute zur nächsten.

„Verflixt, bitte nicht jetzt", stöhnte der Fahrer plötzlich und trat verärgert auf die Bremse. Sofort reckten die Passagiere den Kopf, um zu sehen was los war.

FederlesenWhere stories live. Discover now