Von Plänen, Erkenntnissen und Aufbrüchen

68 9 0
                                    

„Ich kenne den Plan, aber ich musste Nigel Dalton freies Geleit zusichern, insofern er kooperiert. Sie werden nach ci Cruk aufbrechen, sobald Ylaine wieder fit ist."

„Du willst sie nicht wirklich vor dem Gericht aussagen lassen? Muss ich dich an die Folgen erinnern?"

„Ich habe nicht gesagt, dass sie aussagen werden."

Die beiden saßen einander noch eine Weile gegenüber, schweigend in die eigenen Gedanken vertieft. Erst als das Geläut der Glocken dem Besucher die Zeit in Erinnerung rief, erwachte er aus seiner Starre.

„Tut mir Leid meine Liebe, aber ich habe noch eine wichtige Verabredung. Ich würde dich gerne heute Abend zum Essen einladen."

„Ich werde sehen, ob ich es einrichten kann", antwortete die Sekretärin vage. Schließlich fügte sie hinzu: „Du bist dir immer noch sicher?"

Er blieb lächelnd im Türrahmen stehen und nickte ihr zu.

„Wohlstand und Gerechtigkeit. Ohne diese beiden Dinge ist ein Staat nur ein weiterer Stamm voller Barbaren."

„Dann nimm den Inquisitor an die kurze Leine. Er verursacht bei weitem zu viele „Kollateralschäden". Ehrlich gesagt, ich bezweifle, dass du ihn überhaupt noch unter Kontrolle hast."

Der Besucher lächelte und verschwand.

Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung, um den Gast zum Ausgang zu befördern. Eine kleine Luke wurde im Büro geschlossen und die Verwalterin Epizentrums blieb zurück. Langsam war es an der Zeit sich Gedanken zu machen, ob es so weitergehen konnte. Heute waren es Schwerverbrecher, die ihrer gerechten Strafe auch im Heimatland zugeführt worden wären oder im äußersten Fall jemand, der Telling auf die Schliche zu kommen drohte. Aber wer würde es morgen sein?

Die Gespräche waren anstrengend gewesen, doch sie musste der Sache nachgehen. Eine Weile überflog sie das Protokoll. Viele Einzelheiten fehlten oder waren einfach unklar. An einer Stelle wurde sie aufmerksam, richtete sich auf, schob ihre Brille zurecht und nahm den Füllhalter zur Hand. „Was", murmelte sie, „ist mit diesem Dorf geschehen? Er hat mir nichts über eine Aktion in diesem Gebiet erzählt." Schmerzhaft wurde sie sich der Zwickmühle bewusst, in die sie und ihr Geliebter die ganze Insel manövriert hatten. „Steward, pack das Wichtigste zusammen. Ich begebe mich auf eine kleine, geheime Reise. Niemand wird informiert. Empfange niemanden solange ich unterwegs bin. Falls jemand fragt, sag einfach ich wäre zu Geschäften in Lanluen aufgebrochen!"

Die Nacht brach herein und Ylaine schlief fest. Nachdem die Verbände gewechselt worden waren, verabreichte man ihr eine Dosis Schmerzmittel. Ronen kehrte an seinen Wachposten vor der Türe zurück, als ein Bote die Treppen hinaufstieg. Er nickte kurz, bevor er an die Tür der Sekretärin klopfte und einen Brief übergab. „Warte bitte kurz", rief Ronen ihm nach, als der Briefträger los wollte und verschwand in Ylaines Zimmer um Schreibzeug zu holen. Wenn es auf dieser Insel etwas gab, das immer zu finden war, dann Stift oder Papier.

Er kritzelte eine kurze Notiz, die er überreichte. „Bitte senden Sie die Nachricht sofort an die hohen Richter in Cruk. Beeil dich bitte!"

Der Bote nickte, übernahm den Zettel und verabschiedete sich mit einer Verbeugung. Ein Zimmer weiter hörte man Nigels Stimme. Genervt rannte Ronen hin und trat gegen die Tür. Es hörte sich nicht einmal schrecklich an, aber die Nerven lagen blank. „Halt deine Klappe, du Dreckskerl! Ylaine schläft!", brüllte er und rammte seine Faust mit voller Wucht gegen das Holz.


Anschließend wirbelte er herum, stapfte wie ein eingesperrter Tiger auf dem Flur umher. Nigels Antwort blieb ungehört. Blut rauschte in Ronens Kopf. Er musste erst einmal verarbeiten, was passiert war. Schließlich ließ er sich gegen die Wand fallen und rutschte langsam an ihr herunter. Die Arme um die Knie geschlungen, den Kopf darin verkrochen, saß er da. Tränen passten eigentlich nicht zu dem beherrschten, jungen Mann, der sein Umfeld genau zu beobachten pflegte und alle Konflikte in seinem Inneren ausfocht, ungesehen von anderen.

Der Mond drang immer noch durch die verrammelten Fensterläden. Dunkelheit hüllte Nigel ein. Sie sorgte dafür, dass einen niemand fand. Er dachte noch über das Gespräch mit der Oberhexe der Insel nach. Eigentlich gab es an dem Ergebnis nichts auszusetzen. Er würde überleben und sogar freies Geleit bekommen, wenn er die Anweisungen befolgte. Ylaine und Ronen, die beiden Streber, würden sich wohl einen Orden verdienen und die ganze Bande auffliegen lassen. Vielleicht war es schlau noch ein bisschen Geld rauszuschlagen. Apropos, was galt hier eigentlich für eine Währung? Wo also sollte es hingehen? Jamaika wäre cool. Er versuchte den Reggae zu imitieren und grölte einen Song, den er irgendwann mal selbst geschrieben hatte. Er hatte kaum den Mund aufgemacht, als Ronen fast die Tür eintrat. Da Nigel beschlossen hatte etwas netter zu werden, beendete er sein Solo und legte sich schlafen.


Eine Woche später war es soweit. Ylaine war inzwischen wieder halbwegs auf dem Damm und Ronen wich ihr keinen Schritt von der Seite, wie ein Wachhund. Aber das Verhältnis zu seiner Mutter schien sich irgendwie verändert zu haben. So oft es ging mied er ihre Blicke, ließ ihren kurzen Händedruck nur widerwillig zu und machte ein Gesicht, als leide er unter chronischen Bauchschmerzen. Nigel erklärten sie nur, dass man zum Tor zur westlichen - also amerikanischen - Welt fahren würde. Ci Cruk nannten sie das Gebilde, das auf einem riesigen Wall errichtet worden war, der den einzigen Fluss Epiens vom Meer abgrenzte. Der Amerikaner musste sich eingestehen, dass er gespannt war auf den Anblick.

Sie würden mit einem der abgefahrenen Öko-Einstein-Autos fahren, die überall in Epien in den Fahrrinnen herumrasten.

„Wie schnell fahren die eigentlich?", fragte er. Die Antwort lautete: „Halt die Klappe!" Zuletzt stieg Ylaine ein. Sie versuchte krampfhaft ihr Humpeln zu verbergen, doch man sah ihr immer noch die Verletzungen an. Sie ignorierte Nigel vollkommen. Doch je distanzierter sie sich ihm gegenüber verhielt, desto mehr wollte er sie davon überzeugen, dass es da noch einen anderen Nigel gab. Bei kaum einer anderen Person hatte er bis jetzt das Bedürfnis verspürt akzeptiert, vielleicht sogar geliebt zu werden. Bei seiner Mutter war das Gefühl versandet, sein leiblicher Vater hatte sich irgendwohin abgesetzt.

Das Auto rollte los. Nigels Gedanken kreisten um die Gokartrennen mit seinem Vater. Das Lachen übertönte sogar den Motorenlärm und immer wenn sie nach Hause kamen, hatte Mutter beide postwendend unter die Dusche geschickt. „Ich will keine Tankstellen am Esstisch, also ab in den Regen mit euch", kommandierte sie immer und grinste breit, als Vater so tat, als fiele er vor Hunger in Ohnmacht. Er hätte Gefallen gefunden an dieser Welt, ganz bestimmt. Er hätte all diese verfluchten Erfindungen untersucht, hätte jede Schraube gekannt, gewusst wo alles seinen Platz hatte und neue Pläne ausgeheckt.

FederlesenWhere stories live. Discover now