Die Frau namens Faust

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Die Ohnmacht war allerdings nur eine kurze.

Jemand trug sie durch Ruinen, verfallene und verlassene Häuser, tote Gebäude. „Eine falsche Bewegung, dann hetze ich Gretchen und Mephisto auf dich, du Rüpel!", mahnte eine Stimme über ihr. Ein Schleier aus silbernen Haaren umgab die Unbekannte. Jede Bewegung bereitete Pein, jeder Schritt, den ihre Wohltäterin auf der verwaisten Straße tat, durchzuckte Ylaine. Den Kopf an die fremde Schulter gelehnt schaute sie sich um. Die blinden Fenster wirkten wehmütig, einige halb eingestürzt, andere bis auf die rußgeschwärzten Grundmauern abgebrannt. Wer sollte hier wohnen? Der Weg wurde breiter. Aus den Augenwinkeln erkannte sie den Mann. Er hielt sich die angebissene Hand und blickte mit einer Mischung aus Angst und Wut immer wieder auf die Tiere, die ihn stumm umkreisten.

Allmählich wurde die Straße breiter, die Häuser rückten auseinander und gaben den Marktplatz des Ortes preis. Nichts war dort übrig von den Ständen, die einst unter vollen Warenkörben geächzt hatten. Umrisse ragten überall auf, sowie kleine Erdhügel. Zuerst glaubte Ylaine, es wären weitere Trümmer, doch sie standen in einer Reihe, aufrecht zum Himmel zeigend. Jeweils zwei Hölzer waren zu einem Kreuz verbunden und auf den Erdhügeln platziert worden. Vereinzelt waren Löcher ausgehoben, daneben lagen Bündel, mehr oder minder mannslang.

Erschrocken sog sie die Luft ein. Schwindel folgte auf Schock, gefolgt von Übelkeit. „Ja, du siehst richtig, Erzählerin. Ein Friedhof für die Opfer der großen Katastrophe, die sich hier vor nicht allzu langer Zeit ereignete. Aber das ist zu viel für deinen Zustand." Die Frau wandte sich nach rechts und hielt auf eines der wenigen, intakten Häuser zu. Jemand saß auf der Türschwelle und stierte ihnen aus geröteten Augen entgegen. In seinen zitternden, faltigen Händen hielt er eine Schaufel. „Tashar", flüsterte sie und blieb vor ihm stehen. Ylaine schaute zwischen den Gesichtern hin und her. Beide waren geplagt von großem Schmerz, doch im Gegensatz zu dem orientalisch aussehenden Alten, flackerte in dem etwas jüngeren, weiblichen Antlitz noch Widerstand. „Es ist genug für heute, komm mit herein und hilf mir, dass wenigstens dieses Opfer nicht verstirbt."

„Nur noch ein letztes, meine Liebe. Nur noch ein letztes." Mehr sprach er nicht und richtete sich auf, um seine traurige Arbeit fortzuführen. Den Mann umgeben von den Hunden beachtete er nicht. Sie hingegen schritt den finsteren Flur entlang und durch eine offene Tür. Die Decke war niedrig. Kräuter in allen Varianten belagerten Tische, Regale und Fensterbänke. Behutsam bettete sie die verletzte Ylaine auf ein sauberes Bett in der Ecke. Fachmännisch legte sie die Wunden frei. „Du da!", rief sie dem Begleiter zu, „Wie heißt du?"

„Nigel", kam die Antwort, heiser und misstrauisch.

„Schön, mach dich nützlich! Draußen im Hinterhof gibt es einen Brunnen. Hol Wasser!" Nigel bewegte sich keinen Millimeter, bis Gretchen und Mephisto knurrten. Dann verschwand er aus dem Blickfeld. Schweigend wandte sie sich wieder der Patientin zu, die halb im Delirium lag und schwer atmete. Schatten sammelten sich und ihre Augenlider wurden schwer, so schwer wie ihre Glieder, so schwer. Aus tiefer See, so glaubte sie, drang die Stimme ihrer Behüterin, leise und schwindend: „Schon gut. Schlaf ruhig..."

Viel zu früh wurde sie von nahem Klappern geweckt. Die Verfolger, dachte Ylaine. Sie stemmte die Ellenbogen in weiche Kissen und wollte sich aufrichten. Mitten in der Bewegung durchzuckten sie die Schmerzen, die sie im Ruhen zurückgelassen hatte. Ein krummer Schemen verschwand hinter der Ecke. Dafür kam die Frau mit dem Silberhaar herein, ein erleichtertes Lächeln auf dem Gesicht und Verbandszeug in den Händen. Sie drehte sich kurz um. „Nigel, komm her. Es gibt Frühstück."

Der vorm Galgen Gerettete trat ein, mied Ylaines Blick und brummte nur ein kurzes guten Morgen. Auf einen Pfiff der Hausherrin flitzten die beiden Hunde hintendrein, jagten sich fröhlich bellend durch die Küche, um sich anschließend ihre Leckerlis abzuholen. Der Wolfshund trottete zufrieden auf das Bett zu und stupste Ylaines Hand an, die ihm den Nacken kraulte. Erneut ging die Tür auf. Tashar, der wohl die ganze Nacht auf der Treppe gesessen hatte, kam herein, warf den Anwesenden einen kurzen traurigen Blick zu, schüttelte den Kopf und kramte in einem Schrank. Er holte ein Stück Käse hervor, verschlang es und spülte offensichtlich mit Bier nach. Dann verließ er den Raum wieder.

Sie schaute wieder zu der Frau, die sich mit einer dampfenden Tasse in einen knarzenden Schaukelstuhl gesetzt und die Beine ausgestreckt hatte. Sie musste die ganze Zeit auf gewesen sein, um sie zu behandeln. Nun nutzte sie den Moment der Ruhe und lauschte mit geschlossenen Augen ins Ungewisse. Der kleine Pudel kletterte flink auf ihren Schoß und beschlabberte ihre Nase. „Mephisto, kannst du denn keine Minute Ruhe geben?", fragte sie und zerzauste dem Kläffer den Puschel.

Dann erhob sie sich und kam an das Bett. „Wie geht es dir?", fragte sie laut und fügte eine weitere geflüsterte Frage hinzu: „Und was macht der bedrohliche Vogel bei dir? Er sieht nicht aus, als gehöre er hierher nach Epien."

Nigel hatte wohl gelauscht und sprang auf, zeternd und stinksauer. „Eine falsche Bewegung und Gretchen beißt dir die Kehle durch", donnerte die Gastgeberin.

„Was, der Pudel?", höhnte Nigel.

„Nein, wie kommst du darauf? Das ist Mephisto, du ungebildeter Gossenjunge. Selbst Leute wie du müssen doch irgendwann mal von Goethes Faust gehört haben", belehrte sie ihn, „Mephisto hat sich zu Beginn in einen Pudel verwandelt, um Faust hereinzulegen!"

Nigel gaffte sie verwirrt an. „Faust ist übrigens auch mein Name, Henrike Faust. Der Kerl, an dem ihr gestern Nacht vorbeigelaufen seid, ist Tashar. So und jetzt raus mit der Sprache, wer seid ihr und warum warst du so dämlich, den da vorm Galgen zu retten?"

„Woher weißt du, dass er gehängt werden sollte?", fragte Ylaine neugierig, als Nigel mit finsterer Miene die Stube verlassen hatte. Wortlos deutete Henrike auf den Strick in der Ecke. Gretchen und Mephisto balgten ausgelassen um das Hanf. Der Blick der Erzählerin fiel auf Henrikes Hand, an deren Finger zwei Ringe blitzten. Auf einem von ihnen glaubte sie einen Elektronenring, durchstochen von einer Feder zu erkennen. Freilich war sie immer noch nicht auf der Höhe und konnte sich irren. Anstatt sich weiter den Kopf zu zerbrechen, beantwortete sie Henrikes Frage: „Das Beweisstück – ich meinte Nigel – ist derzeit unsere einzige Chance diese Morderzähler zu finden. Sie haben ihn von Weiß-der-Geier-wo hergeschleppt und er ist die einzige Person, die ihre Gesichter kennt und noch lebt! Wenn ich ihn zur Sekretärin bringe, kann sie der Sache ein Ende machen."

Fausten nickte. Etwas schien ihr nicht zu gefallen. „Am besten ihr bleibt noch ein paar Tage hier. Nigel kann Tashar helfen, die letzten Gräber auszuheben. Was deinen Plan angeht, empfehle ich den Weg über den Fluss zu nehmen. In Richtung Südsüdwest ankert öfters ein Piratenschiff. Der Kapitän hat mich seinerzeit hergebracht... Eine Geschichte, die ich jetzt nicht weiter ausführen möchte. Wenn du ihm sagst, dass du eine Freundin von mir bist, wird er dich bestimmt ein Stück mitnehmen."

„Und ich wette, er trägt ebenfalls einen sehr interessanten Ring, der ziemlich ungewöhnliche Türen öffnet und Verbindungen knüpft!"

Es war ihr einfach so herausgerutscht. Ylaine spürte, dass ihre Ohren heiß wurden und glaubte fast, den roten Schimmer ihrer Wangen zu sehen. Henrike Faust ignorierte den Einwurf galant und wandte sich den Kräutern auf der Fensterbank zu. Nachdenklich beobachtete sie dabei die beiden Männer, die dem Marktplatz weitere hölzerne Kreuze hinzufügten. „Was ist passiert?", fragte Ylaine schließlich, der der wehmütige Gesichtsausdruck nicht entgangen war.

FederlesenWhere stories live. Discover now