Ein leerer Galgen

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Bevor einer von ihnen Ylaine sehen konnte, huschte sie in eine Seitengasse, wo sie einem Betrunkenen eine faule Tomate auf die Nase setze – für den Fall, dass sie jemand beobachtete. Wenige Meter später gelangte sie schließlich auf den Dorfplatz und ließ fallen, was sie durch die Luft wirbelte. Auf der einen Seite mündete der Hauptweg in einen Platz aus rotem Kopfsteinpflaster. An der gegenüberliegenden Seite verdeckte eine wuchtige Holzplattform den Blick auf das Rathaus. Handwerker legten letzte Hand an einen Galgen und einer von ihnen testete bereits publikumswirksam die Falltür, die vermutlich am nächsten Morgen irgendeinen armen Schlucker ins Jenseits befördern würde. „Das kann er nicht ernsthaft vorhaben!", schrie es in ihr. Allein die Vorstellung... Der Boden unter ihr drohte zu kippen, Sterne blitzten im Sichtfeld auf und alles sirrte.

Hastig warf sie sich herum und flüchtete zurück zu den Artisten. In kurzem Abstand folgte ein Bote, rief ihr etwas zu, das sie nicht hörte. Erst als sie ihren Schlafplatz erreicht hatte und erschöpft aufs Gras sank, bemerkte sie ihn. Er tat jedoch so, als wäre sie gar nicht zugegen und wandte sich sofort an Groff, der ihre Ankunft stirnrunzelnd verfolgt hatte. Der Gesandte kam im Auftrag des Bürgermeisters und überbrachte ein ungeheuerliches Angebot. Die Truppe sollte als eine Art Vorgruppe das geheimnisvolle Event eröffnen. Sogleich mischte sich Granny Gray in das Männergespräch ein und fragte unverblümt, was denn dabei herausspringe und um was für eine Art von Veranstaltung es sich überhaupt handle.

Die Haltung des Dieners veränderte sich schlagartig. Er wurde vorsichtig und stellte die Gegenfrage, was sie denn überhaupt schon gehört hätten und aus welchen Beweggründen sie hier seien. Gray blaffte, dass er seine Nase in die eigenen Angelegenheiten stecken solle. Ansonsten würde sie sich an einem sehr dunklen und übelriechenden Ort wiederfinden. Dann tippelte sie Richtung Schankraum, wahrscheinlich um ihren Groll mit Hochprozentigem zu besänftigen. Groff zuckte entschuldigend die Achseln. „Tut mir leid. Wir wissen nur von einem großen Ding, das hier starten soll und dachten uns, dass sich hier sicher der ein oder andere Taler verdienen lässt."

Etwas verunsichert überdachte der Bote die neue Lage. Ylaine, die gelauscht und Lunte gerochen hatte, fürchtete schon, man würde sie ausweisen, da sie offensichtlich nicht zu den Eingeweihten gehörten. Nach einer kurzen Überlegung unterbreitete er dem Artistenanführer jedoch einen Vorschlag: „Ich will offen sein... Diese Geschichte ist speziell, ein Epos ohnegleichen. Das Großartige droht nun aber leider auch die Grenzen des Legalen zu sprengen. Wenn euch das ungeheuer ist, so bitte ich euch zu gehen. Wollt ihr aber die Chance, die ihr erwähntet, trotzdem nutzen, so werdet ihr reich belohnt. Aber wir verlangen absolutes Stillschweigen. Unter diesen Bedingungen werden Bürgermeister und Erzähler sicherlich bereit sein ein beachtliches Sümmchen für euren Auftritt zu zahlen."

Während seiner Ausführungen, musterte er Ylaines schneeweißes Gesicht und den tiefschwarzen Zopf. Ihre schweißnassen Hände zitterten in den Taschen. Es kostete ihr unendlich viel Mühe sich nicht abzuwenden oder irgendwelche Regungen zu zeigen. Groff holte ein paar Kollegen her, bezog auch sie ein, um über die Sache abzustimmen. Die Gruppe flüsterte verstohlen, vergewisserte sich immer wieder, ob der Bote lauschte.

"Was hältst du von der Sache?", fragte Groff und fuhr mit einer herrischen Geste Totsi über den Mund, die gerade protestieren wollte. Die Gauklerin atmete tief durch.

"Offen gesagt, ich bin nur hier, weil etwas Illegales vorgeht. Ein Mann namens Telling hat seine Finger im Spiel und dies wäre nicht die erste Geschichte, die dank ihm ein Todesopfer gefordert hat. Da man am Dorfplatz drüben einen Galgen aufgebaut hat, dürfte es eine Hinrichtung werden. Wenn ich kann, werde ich das verhindern... Falls meine Tarnung nicht sowieso aufgeflogen ist", sie warf einen kurzen Blick zum wartenden Boten, "würde ich euch bitten, mitzuspielen."

Sie blickte in betretene Gesichter. Ausgerechnet Totsi nickte ihr zu, den zierlichen Unterkiefer entschlossen vorgeschoben. "Versuch was du kannst, wir halten dicht! Und falls du speziellere Hilfe brauchst, sag bescheid. Groff, wir sollten den Auftrag annehmen." Das Oberhaupt zog die Augenbrauen hoch.

"Das Geld können wir gebrauchen. Aber ich will meine Leute nicht in Gefahr bringen. Wir nehmen den Auftrag an und wir halten dicht, doch erwarte von einem Haufen Artisten keine Heldentaten." Damit wandte er sich dem Boten zu und übermittelte sein Einverständnis. Ylaine dagegen drehte sich zu Totsi um ihr für die Unterstützung zu danken. Sie winkte ab, immer noch den verbissenen Ausdruck in den Augen und erklärte, dass auch ihre Familie schon flüchtige Bekanntschaft mit dieser Morderzählerbande gehabt hatte. "Damit haben sie unsere Existenz ruiniert! Das hier", sie wies auf die Gauklertruppe, "habe ich mir komplett neu erarbeitet."

Ylaine nickte. "Ich will heute Nacht ins Gefängnis gelangen. Da halten sie das Opfer fest." Totsi grinste kurz. "Da sind Tiff und Piff genau die Richtigen. Wir schauen uns ein wenig unauffällig um und dann sehen wir weiter." Mit einem übertriebenen Rückwärtssalto beendete sie das Gespräch und wühlte sich durch das Chaos an Ausrüstung, Zelten und Leuten. Sie würde also ins Verlies einsteigen. Ylaine verzog sich hinter eine der Zeltplanen, wo sie halbwegs Ruhe hatte und tippte auf dem Handy. Sie musste Ronen informieren, dass sie die Bande aufgestöbert hatte. Hoffentlich waren sie schnell genug vor Ort, auch wenn sie sich darauf nicht verlassen wollte. Besser es gab morgen gar kein Opfer für den Galgen.


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