Die Stadt der Toten

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„Sogar die Totenruhe ist verdorben

und diese einst so vollen Straßen

wirken einsam und verlassen.

Als wär das Leben selbst gestorben", raunte Mephisto, dem der Anblick der vereinzelt umher huschenden Schummerschemen offensichtlich arg zusetzte. Die Todesfee gab ein ungeduldiges Gurgeln von sich und lotste sie über eine Felsbrücke, die verdächtig nach dem Ort aus Majoranas Schilderung aussah. Kurz darauf tauchten sie in den nächsten Tunnel ein. Es wäre ein Leichtes, sie alle dort drinnen umzubringen. Doch ironischerweise schützte sie die Geschichte, die sie töten wollte. Eine solche Stillosigkeit würde die ganze Erzählung verderben, das Ende ruinieren, wie auch immer es aussehen sollte. Von Zeit zu Zeit blinkte an den Decken ein unauthentisches, rotes Licht auf, sehr wahrscheinlich Überwachungskameras. Niemand bemerkte, dass sie in dem Korridor, in den sie bogen, plötzlich fehlten. Stein kratzte auf Stein. Wo Wand sein sollte, fackelte Licht. Die Todesfee sank bewusstlos zu Boden und die Gruppe wurde in den Seitengang gezerrt.

Als das Licht im Gang aufflackerte, die Tür hinter ihnen zugefallen war, standen sie sich gegenüber. Nigel, Renoir, Fausten, Ronen, Mephisto und Ylaine richteten Revolver auf die Unbekannten. Eingefroren belauerten sie einander. Die in weiß gekleideten Leute verharrten, die Hände gut sichtbar vor den Körpern. „Wir sind unbewaffnet, wir wollen keinen Kampf", berichteten die offenen Handflächen. Jemand trat langsam hervor, in Zeitlupe, und verneigte sich ebenso bedächtig. „Die Toten begrüßen euch herzlich", flüsterte dieser mit heiserer Stimme, „und bitten den Hinterhalt zu entschuldigen, aber selbst die Feuereisen, die ihr klugerweise auf uns richtet, nützen nichts, wenn ihr auf den Wegen des Feindes wandelt."

Im spärlichen Lichtschein erkannten Ylaine ein weibliches Gesicht. Mephisto lächelte. Ihm schien das Empfangskomitee nach dem ersten Schrecken höchst vertraut, was bei seinen regelmäßigen Ausflügen in die Unterwelt nicht verwunderte. Umso erstaunlicher war wieder einmal Renoirs Verhalten, dessen Augen plötzlich aufleuchteten. Wie eine lang vermisste Freundin umarmte er die Gastgeberin. „Meine Güte Vren, dass sie dich totgekriegt haben! Ich bin erschüttert. Wie konnte das passieren?"

Die Frau namens Vren erwiderte die Umarmung, schob Renoir dann ein Stück von sich und begutachtete sein erfreutes, doch von Sorgen gezeichnetes Gesicht. „Du bist alt geworden, mein Pfaffenfreund. Ich weiß, du schätzt eine gute Geschichte, aber kommt erst einmal alle mit. Am gemütlichen Feuer erzählt es sich besser."

Ein paar Mal zuckte die Gruppe erschrocken zusammen, als es hinter ihnen knirschte und krachte. Doch es waren nur Tore, die aussahen wie massive Steinwände, dazu gedacht den aufzuhalten, der bis in diesen Tunnel vordrang. Ein gut beleuchtetes Tor beendete den kurzen Marsch. In schillerndem Perlmutt prangte das Wappen der Totenstadt auf dem Holz: ein Torbogen aus silbrig schimmernden Federn, an dessen höchstem Punkt halb versteckt ein Atomsymbol aufblitzte.

Vren schritt voran und klopfte energisch gegen die Tür. „Worei dima Cruk! Worei ynu coa Resun! Elri ynu cis horan!"

„Was sagt sie?", flüsterte Nigel. Ohne zu überlegen übersetzte Ylaine den kurzen Spruch, der offensichtlich als Kennwort galt. „Öffnet die Festung. Öffnet sie den Toten. Lasst sie dort ruhen." Das Seufzen des Amerikaners klang nicht wirklich zuversichtlich. Doch er musste folgen, wenn er nicht im Gang alleingelassen werden wollte. Der Entführungstrupp verschwand zuerst durch die Tür und als Vren die Besucher hereinbat, waren sie schon nicht mehr vom allgemeinen Treiben zu unterscheiden. Die Besucher mussten die Augen vor dem grellen Licht schützen, das sie plötzlich umflutete und wie ein Hammerschlag ihre Sinne durcheinanderschüttelte.

„Willkommen in der Totenstadt", tönte Vrens Stimme nun in normaler Lautstärke und um einiges wohlklingender. Sie gewöhnten sich langsam ans Tageslicht und bekamen die Gelegenheit sich umzuschauen. Der Ort lag in einer breiten Felsspalte, an deren steilen Wänden Treppen oder Rampen hinauf führten, gesichert durch Geländer. Man hatte allerlei Grünzeug, Bäume und Pflanzen angeschleppt. Die Häuser waren ebenfalls in den Fels gehauen. „Krass!", entfuhr es Nigel. Ronen und Ylaine nickten. Es gab keine bessere Beschreibung für den Anblick. Hoch oben schützte eine massive Glaskuppel die Kleinstadt vor Niederschlägen. Einige Teile konnten an schönen Tagen geöffnet werden, um frische Luft hereinzulassen. Die Wölbung sorgte dafür, dass sich Regenwasser an bestimmten Stellen sammeln und bei leichten Schauern als Rinnsale und schweren Stürmen als Wasserfälle in steinerne Becken fließen konnte. In manchen von ihnen sah man Bewohner baden, andere dienten als Trinkwasserreservoir.

Neben den vielen Weißgewandeten liefen auch einige in bunte Stoffe gekleidet herum, vor allem Kinder. Unwillkürlich fragte sich Ylaine, wie die wohl ausgerechnet in der Totenstadt gelandet waren. Vren, die diese Gedanken zu erahnen schien, bat um Geduld. Sie wollte die Reisenden zu sich einladen und alles erklären. „Wir haben keine Zeit", protestierte Ronen, „wir haben einen Auftrag! Unsere Leute warten an den Eingängen." Vren schüttelte beschwichtigend den Kopf und beruhigte das erhitzte Gemüt.

„Keine Sorge. Wir stehen mit eurem kleinen Kommando in Verbindung." Sie zwinkerte Renoir zu, der peinlich berührt hüstelte. „Also ganz ehrlich, wenn das wieder so eine geheimnisvolle Feder-Atom-Nummer ist, will ich langsam wissen, wer diese Kameraden sind!", forderte Ylaine, der dieser Blickwechsel nicht entgangen war. „Ach was", wehrte nun Mephisto ab und schnaubte schelmisch, „die Toten melden sich immer wieder mal bei den Lebenden. Viele unserer verblichenen Freunde unternehmen Tagesausflüge oder lassen sich sogar auf eine Art Wiedergeburt ein. Nix besonderes in unseren Kreisen, dass man mal Lageberichte zwischen den Welten austauscht oder einen netten Plausch hält. Das erklärt übrigens auch die farbiggewandeten Leute. Das sind nämlich die Lebenden, die zu Besuch sind, sich aber dank des größenwahnsinnigen Morderzählers nicht mehr weg trauen oder geblieben sind, um den Widerstand zu organisieren."

Glücklicherweise lag Vrens Heim sozusagen im ersten Stock und nur wenige Meter vom Tor entfernt. Es gab mehrere Zugänge zur Totenstadt. Man erkannte sie an den Wächtern, die dort postiert waren. Erschöpft ließ sich Ylaine schließlich in einen Sessel fallen. Sie zuckte zusammen, als Renoir das verletzte Bein auf einen Schemel hob, ihr den Schuh auszog und den Stoff ihrer Hose hochschob, um die genähte Wunde zu begutachten. Fausten war sofort zur Stelle und ging ihm zur Hand, während Mephisto Vren in die Küche begleitete und umgehend zu werkeln begann. Nigel und Ronen drückten sich an der Wand herum und beäugten die Einrichtung.

„Warum hast du uns nichts von dieser Planänderung gesagt, Renoir?", bemerkte Ronen. Es sollte beiläufig klingen, gelangweilt und unbeteiligt. Doch der Sohn der Sekretärin war nie ein guter Schauspieler gewesen. Ohne von den Verbänden aufzuschauen, die er gerade vorsichtig abwickelte, stieß der Priester einen Seufzer aus und rollte die Augen, als müsse er sich mit einem Kleinkind herumschlagen, das partout seinen Brei nicht essen wollte. „Ganz ehrlich? Ich hielt es für besser – und sowohl das Häuptlingspaar der Ureinwohner als auch die Zeremonienmeisterin teilen meine Ansicht – dir nicht alles auf die Nase zu binden. Du hast uns ebenfalls nicht alles erzählt, was du über die Zusammenarbeit deiner Mutter mit den Morderzählern weißt und das respektieren wir gezwungenermaßen. Aber erwarte von uns nicht, dass wir dir vertrauen. Wir sind nicht so offenherzig wie unsere gute Ylaine. Und selbst die hat bei Henrike und Tashar ihr Telefon zertrümmert, damit du sie nicht orten konntest. Deshalb haben wir vier uns im Stillen geeinigt, den kleinen Umweg in Kauf zu nehmen."


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