Des Pudels Kern

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In der Ferne erhob sich bereits majestätisch die Silhouette des Damms von ci Cruk. Je näher sie dem Wall kamen, desto breiter wurde auch der Fluss, dem sie nun schon seit geraumer Zeit folgten und desto beeindruckender erschienen die Ausmaße der Befestigungsanlage. Man hatte die meterdicke und kilometerlange Mauer Stein für Stein aufgeschichtet. In regelmäßigen Abständen klammerten sich gläserne Aufzugschächte, eingefasst in massive Stahlkonstruktionen, an die Wand. Stand man direkt vor dem Wall, verrenkte man sich den Nacken und konnte trotzdem den Himmel darüber nicht sehen.

Ci Cruk war wohl die längste und gleichzeitig dünnste Stadt der Welt. Sie lag nicht im Schatten der riesigen Mauer sondern auf ihr. Einige Häuser waren, gehalten durch Trägerplattformen über den Rand hinaus gebaut worden, damit in der Mitte genügend Platz für eine Hauptstraße blieb. Was man von außen nicht erkennen konnte, waren die Fenster, die in den Wall gehauen worden waren. Cruk war eine pulsierende Metropole, die wie jede andere wuchs. Da Länge und Breite bereits zugebaut wurden, befanden sich wichtige Institutionen von Anfang an im Inneren der Anlage.

Nicht jedem war die Stadt geheuer, also erstreckten sich im Schatten der Mauer unzählige Zeltsiedlungen. In einer von ihnen parkte der Chauffeur den Wagen und die Passagiere mussten aussteigen. Ylaine schaute sich genau um. „Seid vorsichtig und bleibt auf jeden Fall zusammen", ermahnte sie.

Nigel konnte seinen Mund nicht halten und fragte nach dem Grund ihrer Unruhe. „Mund zu und Kopf an!", fauchte sie. „Muss man dir wirklich alles erklären? Dieser Ort könnte das perfekte Versteck für die Telling und dessen Morderzähler sein. Außerdem gibt es in großen Städten allerhand Kriminelle. Sie sind hier genauso wenig willkommen wie in jeder anderen Gesellschaft, aber das juckt niemanden. Das liegt vor allem daran, dass einige Verbrechen schon mal in einer äußerst erfolgreichen Geschichte gipfeln. Man arrangiert sich, sodass ein Teil der Einnahmen den Geschädigten zukommt..."

„Das ist doch bekloppt. Kein Wunder, dass diese Erzählermafia es so einfach hat, bei solchen idiotischen, juristischen Handhabungen", erwiderte Nigel.

„Aber hier funktioniert es! Bei uns rollen keine Köpfe... normalerweise."

Ylaine stützte sich auf Ronen und stieg vorsichtig aus dem Fahrzeug. Kaum hatten sie sich orientiert, drang ein unheimlicher Krach aus einem der Zelte. Der Chauffeur befestigte schnell eine rote Flagge, die signalisierte, dass das so gekennzeichnete Objekt vom Besitzer zur anderweitigen Nutzung freigegeben war, hielt jedoch inne und wartete ab.

„Du glaubst meine Zukunft zu kennen?", brüllte jemand, „Schön, aber die interessiert mich gerade nicht. Sende mir einfach eine Nachricht, wenn sie eintreffen!"

Etwas jaulte und zwei Fellbündel schossen durch den Vorhang ins Freie, direkt auf Ylaine zu. „Gretchen! Mephisto!"

Sie ließ sich vorsichtig auf den Boden sinken, um die Hunde zu kraulen, die freudig um sie herumsprangen. „Aber wo ist euer Frauchen, was ist aus Fausten und Tashar geworden?"

„Erwartest du ernsthaft, dass die mit dir sprechen?", murrte Nigel, duckte sich unter Ronens geballter Faust hinweg und musste doch einen Schritt zurück machen, da sich die Tiere offensichtlich an den Störenfried erinnerten und ihn mit dumpfen Knurren in die Schranken wiesen.

„Meine Güte, vieles ist mir wohlbekannt

doch warum so verhasst die Menschenhand?",

ertönte die Stimme von vorhin. Am Zelteingang stand ein Mann mit nacktem Oberkörper, leicht verfilztem, struppigen Haar, das nicht ganz zu den eleganten Koteletten und dem Spitzbart passte. Das einzige Kleidungsstück bestand aus einer Art Fellrock. Man konnte kaum erkennen, wo das Gebilde endete und die ebenfalls stark beharrten Beine anfingen. Der Mann stand bestimmt auf Sprungstelzen, die an die Füße geschnallt wurden und aussahen wie die Beine eines Ziegenbocks. Er setzte sich einen Schlapphut auf, an dem eine Hahnenfeder prangte und zog sich hastig eine seidene Weste über. Dann erst kam er auf die kleine Gruppe zu, beugte sich zu den Hunden und streichelte sie, bis sie von Nigel abließen.

„Und dieses Fräulein in eurer Mitte

scheint vertraut, erklärt euch bitte!"

Instinktiv, da sie es mit einer höhergestellten Persönlichkeit zu tun hatte, setzte Ylaine zum Knicks an, doch ihr Bein war so schwach, dass sie sich an Ronen festhalten musste, um nicht umzufallen. „Ihr seht, ich bin vom niedrigsten der Ränge. Mein Name lautet kurz Ylaine, bin Närrin und Erzählerin. Ronen-"

„Ihr seid 's, dann werdet Ihr erwartet.

Sprecht nicht hier, zu viele Lauscher – so was schadet.

Ich bitt' euch tretet ein,

bedient euch ruhig an meinem Wein",

unterbrach der Ziegenmann und führte sie in das Zelt, nicht ohne sich hastig umzuschauen. Gretchen und Mephisto sprangen noch kurz um sie herum, er befestigte eine Nachricht am Halsband des Pudels und ließ beide laufen.

Das Zelt war geräumig, die Stimmung heiter. In einer abgeschirmten Ecke hockte ein altes Mütterchen, umgeben von allerhand mystischem Kram. Dort ließen sie sich nieder. „Ihr seid des Pudels Kern", bemerkte Ylaine und musterte ihren Gastgeber noch einmal. Er nickte.

„Eine weise Närrin ist gefährlich.

Nun erst versteh ich so manches wirklich.

Und das dort ist der Tagedieb,

der dich beinahe ins Verderben trieb?"

„Damit bin dann wohl ich gemeint", mischte sich Nigel ein. Er hatte Mühe, den Worten der beiden zu folgen. „Aber ich will eins klarstellen! Dass ich auf dieser Irreninsel gelandet bin, ist nicht meine Schuld! Ihr habt keine Ahnung von -"

„Nun ruhig der Herr.

Ein übler Wicht,

ist übler als der Teufel nicht.

Denn so werd vom Pfaffen ich genannt.

Es wird halt eher schlecht gedankt,

dass man sich um kranke Seelen sorgt.

Und schon schreit einer Tod und Mord."

Ronen, Ylaine und Mephisto wechselten in die Sprache der Ureinwohner, sodass Nigel dem Gespräch nicht mehr folgen konnte. Doch im Gesicht des Gastgebers fand eindeutig eine Veränderung statt und das unbekümmerte Grinsen wich einer betroffenen Miene. „Schwere Schuld hast du dir aufgeladen", murmelte er, vergaß dabei sogar das Reimen.

„Glaub ja nicht, dass ich stolz darauf bin. Den Teufel willst du spielen, Kumpel? Glaub mir ich habe Dinge gesehen, die euch brave Musterbürger sogar in euren wachen Stunden Albträume bereiten würden", erklärte Nigel und stürzte hastig das Bier hinunter, das die Bedienung gebracht hatte. „Lassen wir die Vergangenheit ruhen", unterbrach Ronen, „wichtig ist doch, dass wir zum Gericht kommen, ohne von den Morderzählern aufgehalten zu werden." Milde erstaunt nickten die anderen. Es kam zum ersten Mal vor, dass Ronen das Beweisstück in Schutz nahm.

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