Kapitel 2

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Corvin öffnete die metallische Tür zu seiner Wohngruppe. Das rostige Scharnier quietschte unangenehm und der Innenraum, der nun durch die offene Tür zum Vorschein kam, wirkte leblos. Nackte Betonwände in grau und eine karge Holzeinrichtung schmückten den kleinen Raum. Ein paar alte Matratzen, durch die die Federn teilweise schon durchstachen, lagen in einer Ecke und bildeten das Schlafzimmer. Es existierte nur ein einziger, weiterer Raum, der an den Wohnraum anschloss und das war das Bad, welches - was Corvin nach sechs Jahren, die er hier verbracht hatte, wusste - ebenso dreckig und veraltet war wie der Rest ihrer Wohnung. Und dafür mussten sie auch noch bezahlen.

„Corvin! Wieso bist du schon wieder da?" Ein kleines Mädchen kam stürmisch auf ihn zugerannt. Ihre langen, schwarzen Haare wehten hinter ihr her wie Schatten von Ranken und ihre blauen Augen bohrten sich zugleich fröhlich und besorgt in seine. Das Mädchen sprang an ihm empor, um sich ihm um den Hals zu werfen, wodurch der Junge - der ihr von den wesentlichen, äußeren Merkmalen her ähnelte wie ein Zwilling - in die Knie ging.

„Hey Arwen", begrüßte er das Mädchen. Die Sechsjährige war seine kleine Schwester. Gerade um sie machte er sich nun, wo er arbeitslos war, enorme Sorgen. Wie könnte er sie nun verpflegen, wenn sie selbst jetzt schon einer Bohnenstange glich und keinen Zentimeter mehr zu wachsen schien?

Er drückte seine Schwester sanft von sich weg, um ihr in die Augen blicken zu können. Der Bruder versuchte ein warmherziges Lächeln aufzubringen, wo sein Herz momentan doch so gequält wurde. Dann richtete er sich wieder auf und meinte: „Ich muss euch was sagen."

Corvin drehte sich in die Richtung der winzigen Küche, in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes. Dort stand Vaith zusammen mit einem Schwarzen Mädchen, welches nur zwei Jahre jünger als Corvin war. Auch sie war von magerer Statur und ihre dunkle Lockenpracht schimmerte stumpf im blassen Licht, welches einzig durch ein kleines Fenster in der Wand erzeugt wurde.

„Das kann nichts Gutes bedeuten", seufzte sie und wandte sich zu ihm um.

Corvin blickte bedrückt gen Boden, schürfte dort mit seinem durchgelaufenen Schuh und brachte geradewegs heraus: „Ich wurde gefeuert."

„Was?" Das Mädchen, Ilona, starrte ihn perplex an.

„Warum?", hakte Vaith nach, jedoch mit deutlich ruhigerer Stimme, obwohl die Sorge in sein Gesicht geschrieben war.

„Man hat mich des Diebstahls verdächtigt", erläuterte Corvin die Umstände recht freundlich. Sein Chef hatte sich eindeutig mit anderen Worten darüber geäußert.

Doch wenn man in den unteren Ebenen lebte, musste man Schicksalsschläge einstecken und weiter machen, wenn man nicht untergehen wollte. Und das Weitermachen - nach vorne sehen - war leichter gesagt als getan in dieser düsteren Umgebung, bis wohin nicht einmal mehr der Regen hervordrang. Es kam hier unten nicht selten vor, dass Leichen am Straßenrand lagen - ob Selbstmörder oder Opfer des Systems. Manchmal sogar Babys, die von ihren Eltern im Stich gelassen wurden, da diese nicht einmal sich selbst versorgen konnten. Für viele schien der Tod ein Lichtblick, vermutlich auch für ihn, doch noch hatte er eine Mission auf dieser Welt. Und die lautete: Arwen.

„Was machen wir jetzt?", fragte Corvins Schwester entsetzt und zupfte ihm am Saum seines Shirts.

Corvin zwang sich erneut ein Lächeln auf und sagte: „Ich werde sofort anfangen, einen neuen Job zu suchen. Keine Sorge, ich krieg das irgendwie hin."

„Soll ich...", Ilona zögerte ehe sie ihren Satz vollendete: „Vielleicht doch mit Schwarzarbeit anfangen. Ich meine, da interessiert es niemanden, ob ich ein Jahr zu jung zum Jobben bin." Vaith und Corvin brachten gleichermaßen ein Schnauben zustande.
„Vergiss es", zischte Corvin.

H.E.L.L.H.O.U.N.DWhere stories live. Discover now