Kapitel 28

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So schnell hatten sie Frankreich durchquert, Corvin konnte es gar nicht fassen. Tagelang hatten sie sich von Atlanta an die Küste gequält und nun hatten sie nur einige Stunden durch die Hälfte eines Landes bis Köln benötigt. Arwen hatte sich zu ihm gestellt und sich an seine Hand geklammert, während sie mit großen Augen die Stadt vor ihr betrachtete.

All die Gebäude, die dicht an dicht nebeneinander standen, zusammengezwängt wie in einem Glas. Die Stadt mit all ihren Ebenen glich Atlanta in jedem Detail. Die Glasmauer, die Fassade, die Schwebebahn, die sich wie eine Schlange um die Gebäude wand, alles war wie in Atlanta. Delian wurde plötzlich bewusst, was zurück in der Schule mit Kulturverlust gemeint war.

Nameless begutachtete die moderne Stadt sprachlos. Wie lange hatte er wohl schon keine modernisierte Zivilisation mehr gesehen? Elektrizität und eine funktionierende Infrastruktur? Der Mann riss sich von dem Anblick los und betätigte den Knopf zum Öffnen der Luke. Corvin stieg mit Arwen als erstes aus, ehe Delian und Nameless folgten.

Der Slums drehte sich zu dem Mann um: „Bist du sicher, dass du nicht mitkommen willst?"

Nameless schüttelte lächelnd den Kopf. Er blickte noch einmal herüber nach Köln, dann meinte er: „Wisst ihr, ich glaube, dass da wäre kein Leben mehr für mich." Für einen langen Augenblick herrschte Schweigen, dann endete er: „Ich habe mit dem Gedanken gespielt, mich den Schleppern anzuschließen. Mit dem Hovercraft hier werde ich sie vielleicht noch erreichen, ehe sie zurück nach Amerika schippern."

Corvin blickte den Bärtigen etwas wehmütig an. Er war sich sicher, dass sie ohne ihn niemals so weit gekommen wären. Der Slums streckte ihm seine Hand entgegen: „Danke. Für alles."

Lächelnd packte der Ältere seine Hand mit festem Griff und entgegnete: „Ich danke euch. Ihr habt in gewisser Weise mein Leben bereichert." Delian neben Corvin musste daraufhin laut auflachen. Der reiche Junge hielt sich eine Hand vor den Mund und versuchte sein Lachen so gut wie möglich zu unterdrücken. Nameless beendete Corvins und seinen Abschied, blickte stattdessen zu Delian und hob eine Augenbraue: „Was ist los, hm?"

Der Junge schüttelte den Kopf: „Wie können wir dein Leben bereichern? Ohne dich wären wir gestorben."

„Ohne euch wäre ich weiter in meinem Baumhaus verrottet. All diese Jahre, ihr habt das geändert."

Delian lächelte leicht - eventuell hatte sein Gegenüber recht - und verabschiedete sich ebenfalls mit einem Handschlag. Es war trauriger als er erwartet hatte, sich von dem Mann trennen zu müssen. Unerwartet war er zu einem guten Freund geworden, einen, den sie nie wieder sehen könnten, wenn sie einmal diese Mauer durchschritten hatten.

Nameless nickte zu Delian herüber: „Versprich mir, dass du da drinnen nicht wieder zu so einem verzogenen Blag wirst."
Der Blauhaarige nickte und tatsächlich war es ernst gemeint, todernst: „Versprochen."

Daraufhin lächelte der Mann, kniete sich vor Arwen und fuhr ihr einmal durch die langen, verknoteten Haare. „Du bist das tapferste Kind, was ich kenne - und auch das einzige", er lachte einmal und meinte dann: „Du musst deinen Bruder weiterhin beschützen." Dann stand er auf, setzte sich zurück ins Hovercraft und blickte seine Gruppe noch einmal aufs Genaueste an.

„Viel Glück", rief Corvin.

Nameless nickte jedem noch einmal zu, dann startete er den ratternden Motor und fuhr über die Dünen davon - den Weg zurück, den sie mit so viel Anstrengung und mit so vielen Opfern überwunden hatten. Jedem von ihnen war klar, dass sie ihn nie wieder sehen würden oder über sein Schicksal informiert werden könnten. Ob er an seinem Ziel angelangen würde, war ungewiss. Wie es ihnen zurück in der Zivilisation ergehen würde ebenfalls.

H.E.L.L.H.O.U.N.DWo Geschichten leben. Entdecke jetzt