Der sechste Brief

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Oh ich erinnere mich an die Sache mit der Treppe.

Du sahst gut aus. So gut, dass ich dich nicht mehr vergessen konnte.

Das hast du Tom vorraus. Dich kann ich nicht vergessen und ich glaube Tom habe ich schon längst vergessen, auch wenn wir noch zusammen sind. Ich erinnere mich gar nicht an seine Augenfarbe oder wie sich seine Hand in meiner anfühlt, obwohl er neben mir sitzt.

Aber Tom ist nett. Das willst du vielleicht nicht hören, aber du schreibst mir auch andauernd Dinge, die ich nicht hören will, also musst du da wohl durch.

Tom ist nett. Er sieht gut aus, er ist höflich, er tut mir vielleicht sogar gut. Mit Tom ist es, als hätte er mein Leben auf Pause gestellt. Und mit dir war es immer so, als würden mehrer Filme auf einmal laufen.

Ich glaube ich schaue lieber mehrere Filme aufeinmal, als ein Leben auf Pause zu leben. Aber Tom ist hier und das bist du nicht.

Du hast in einem deiner vorherigen Briefe geschrieben, das zwischen uns wäre nie mehr als eine Affäre gewesen. Das ist nicht richtig. Du warst nicht meine Affäre, nie.

Mein Vater hat Affären. Schon immer. Und ich weiß wie sie aussehen, wie sie riechen, wie man sie an Weihnachten sogar schmecken kann und wie sie sich manchmal, wenn mein Vater Lippenstift am Kragen seines Hemdes hat, in der Luft absetzen und dort bleiben. Meine Mutter trägt nämlich keinen Lippenstift.

Affären sind egoistisch. Und vielleicht kann man mir Egoismus vorwerfen. Vielleicht bin ich genauso wie mein Vater und kein bisschen besser. Aber ich unterscheide mich trotzdem von ihm.

Mein Vater liebt meine Mutter und das ist verdreht und ungesund, aber er tut es und dann liebt mein Vater jedes halbe Jahr noch eine neue, andere Frau. Am meisten jedoch, liebt er sich selbst.

Und das tue ich nicht. Ich liebe mich selbst, wie mein Vater meine Mutter liebt. Verdreht und ungesund. Und ich liebe Tom, wie mein Vater seine Affären liebt. Nie ehrlich.

Am meisten jedoch liebe ich dich.

Und manchmal, also eigentlich jeden Abend, da schließe ich die Augen und träume mich zurück, an den Bahnhof an dem du 25 Stufen hinunter gefallen bist. Ich habe gelacht und du lagst zu meinen Füßen und konntest dein Gesicht nicht spüren und das war magisch. So beginnen große Geschichten.

Aber danach, nach den 25 Stufen und dem Lachen habe ich dich auf die Toilette begleitet, weil deine Nase geblutet hat und ich habe dir Klopapier geholt und dann hast du mir über den schmutzigen Spiegel vor dem Waschbecken hinweg einen Blick zugeworfen, der für mich der wahre Beginn einer großen Geschichte war. Du hast mich angeschaut als würdest du genau wissen, dass ich mich sofort in dich verliebt hatte und als könntest du das kaum glauben, weil auch du in mich verliebt warst. Du hast mich immer so angeschaut, als wäre die bloße Tatsache, dass ich in dich und du in mich verliebt bist genug ist. Als wäre ich immer genug für dich gewesen.

An für immer glauben wir doch beide eigentlich eh nicht, stimmts?Where stories live. Discover now