fünfzehn

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Man sagt, kurz bevor man stirbt, zieht das ganze Leben an einem vorbei. Die vorherigen Jahre werden auf ein paar Schlüsselmomente reduziert, man fühlt die großen und schönen und schlechten Dinge noch einmal und dann wird für immer alles dunkel.

„Anna. Kann ich bei dir schlafen?"

Ich glaube diese Frage löste eine ähnliche Reaktion in mir aus. Alles was Juno und ich mit einander geteilt hatten zog vor meinem inneren Auge vorbei. Die guten und die schlechten Momente. Ich spürte ihre Haut, ich fühlte ihren Atem, ich hörte wie sie mir Versprechen ins Ohr flüsterte. Und dann wurde alles dunkel. Und ich sagte, ja.

Zaghaft öffnete Juno die Tür, ich richtete mich unbehaglich auf und sie schlüpfte neben mir unter die Decke.
„Weißt du noch, wie wir früher immer zusammen aufgeblieben sind, um dem Gewitter zu zuhören?"
Ich nickte.
„Ich mochte das.", fuhr sie fort: „Ich mochte dich."
Juno wand den Kopf um mir in die Augen zu schauen. Sie hatte kleine goldene Sprenkel um die Iris herum.
„Hör auf.", bat ich.
„Womit?", fragte sie unschuldig.
„Ich will nicht reden."
„Aber wir wohnen seit über einem Jahr zusammen und haben nie darüber geredet, was zwischen uns war."
„Wir wissen doch beide, was zwischen uns war. Es muss nicht geredet werden."
„Warum hat Kara sich von dir getrennt?", fragte sie nach einer kurzen Pause.
„Sie hat jemanden gefunden, der besser zu ihr passt."
„War es auch wegen mir?" Juno klang ehrlich besorgt deshalb.
„Vielleicht ein bisschen. Aber nicht hauptsächlich."
„War sie besser als ich?"
„Sie hat mir weniger weh getan."

Juno wand sich ab. Draußen donnerte es. Ich knipste das Nachtlicht aus. Ein Blitz erhellte für ein paar Sekunden den Raum. Juno schaute mich wieder an. Es war als würde der Blitz genau zwischen uns beiden einschlagen. Ich wusste nicht, was das bedeutete.
„Hast du die Briefe noch?", fragte ich.
Juno nickte langsam. „Du auch?"
„Ja."
„Hast du mich vergessen? Ich meine, bevor ich bei dir aufgetaucht bin?", fragte sie vorsichtig.
Ich schüttelte den Kopf.
„Ich hab dich auch nicht vergessen."
„Bist du deshalb hier her gekommen?"
„Nein. Ich wäre nie zu dir gekommen, wenn ich eine andere Wahl gehabt hätte. Ich wollte keine alten Wunden wieder aufreißen. Ich konnte nur nicht anders."
„Was genau ist passiert? Bei dir zu Hause?", wollte ich wissen.
„Ich hab's ihnen gesagt.", antwortete Juno: „Ich hab ihnen gesagt, dass ich mit Frauen zusammen sein will. Das haben sie nicht verstanden."
„Das tut mir Leid.", sagte ich aufrichtig.
Juno hatte Tränen in den Augen, es war zu dunkel um das genau zu sehen, aber ich konnte es an ihrer Stimme hören.
„Ich habe nie mit einer anderen Reaktion gerechnet, aber das macht es nicht leichter. Ich habe mich so lange so sehr selbst dafür gehasst und ich dachte man kann einen Menschen nicht mehr hassen, als ich es mit mir selbst tat. Aber das stimmt nicht. Sie hassen mich noch mehr."
„Sie hassen dich nicht, Juno. Sie hassen wen du liebst."
„Merkst du wie krank das klingt? Sie hassen wen ich liebe. Das macht keinen Unterschied." Sie wischte sich eine Träne von der Wange.
„Ich bin nicht nur meine Sexualität, aber ohne meine Sexualität bin ich nicht ich. Man kann mich nicht lieben, ohne das zu akzeptieren."
„Ich bin stolz auf dich.", versicherte ich: „Es war mutig von dir ihnen die Wahrheit zu sagen."
Sie lachte ironisch. „Wie kannst du denn stolz auf mich sein? Ich bin erst viel zu spät mutig gewesen. Ich habe uns deshalb kaputt gemacht."
„Wenn du damals noch nicht so weit warst, dann muss ich das akzeptieren. Ich musste das damals und ich muss das auch heute noch."
„Fragst du dich nicht manchmal, was wir hätten sein können, wenn ich früher die Wahrheit gesagt hätte?", fragte sie und schniefte. Das Weinen war vorbei. Sie war wieder tough.
„Nicht mehr. Ich hab's lange getan, aber es hat nirgendwo hingeführt also hab ich damit aufgehört."
„So wie ich damit aufgehört habe, der ganzen Welt eine Lüge zu erzählen."
„Genau."
„Du bist mutig.", sagte Juno und lächelte sanft: „Das wollte ich dir schon immer mal sagen. Ich tue immer so, als wäre ich stark und bin es kein bisschen. Du hingegen bist es wirklich. Stark und mutig."
„Nur weil du dich schwach fühlst, heißt das nicht, dass du nicht stark bist. Du kannst beides gleichzeitig sein."
„Glaubst du das wirklich?"
„Absolut."
„Okay, dann glaube ich das auch."
Ein zweiter Blitz erhellte das Zimmer für ein paar Sekunden. Es donnerte. Das Gewitter musste genau über uns sein. Der Himmel schien ganz dringend mal wieder schreien zu müssen. Hätte er ein T-Shirt angehabt, er hätte es vor Wut zerrissen.

„Darf ich dich was fragen?"
Juno nickte.
„Warum hast du Männer mit hier her gebracht, wenn du eigentlich mit einer Frau zusammen sein willst?"
„Weil ich absolut keine Selbstachtung habe." Juno lachte, aber nichts an dieser Aussage war witzig.
„Ich meins ernst.", sagte ich.
„Ich kann es nicht.", gestand sie: „Ich konnte es nach dir einfach nicht. Jede Frau hat mich an dich erinnert. Also hab ich mich wieder mit Männern getroffen. Vielleicht habe ich einfach Angst davor alleine zu sein. Ich weiß es nicht." Sie schwieg für einen Moment. Ich schwieg auch.
„Ich hatte einfach das Gefühl, ich hätte das Beste schon gesehen.", sagte sie dann: „Du warst das Maximum. Mehr geht nicht."
„Das ist nicht wahr."
„Für mich schon."

An für immer glauben wir doch beide eigentlich eh nicht, stimmts?Dove le storie prendono vita. Scoprilo ora