Kapitel 04

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Das zweistöckige, weiße Flachdachgebäude ragte in Mitten der gepflegten, grünen, blumenlose Wiese wie eine Boje auf offenem Meer hervor. Mercedes stieg wie jeden Freitag aus dem Taxi und schloss einen Moment die Augen, wobei sie die frische, salzige Meeresluft, die vom angrenzenden Strand herüber wehte in ihre Lungen aufsog. Freundlich verabschiedete sie sich vom Taxifahrer und ging dann über den gepflasterten Weg zum Haus. Die gläserne Haustür fiel hinter ihr leise ins Schloss und sie runzelte die Stirn, als sie nirgends die hohe, autoritäre Stimme ihrer Mutter hören konnte. Es war Freitag um kurz vor 18 Uhr. Sie war pünktlich für das freitägliche Abendessen und es war ungewöhnlich ihre Mutter und ihre Schwester nicht diskutieren zu hören. Vorsichtig stellte sie ihre Schuhe neben dem Sofa in der weitläufigen Eingangshalle ab und ging beinahe lautlos auf Socken über den weißen, glänzenden Marmor in den Salon, wo ihre Mutter gewöhnlich auf sie wartete.
„Mom?" Verwirrt überprüfte sie sowohl den Sommersalon, das selten genutzte Wohnzimmer und das altbackene Arbeitszimmer ihres Vaters, bevor sie in die Küche ging, wo gewöhnlich die Küchenchefin Martha das Abendessen vorbereitete. Die ältere, rundliche Frau saß am Holztisch im Vorraum der Küche und löste ein Kreuzworträtsel, während sie eine Tasse Tee trank.
„Hallo Martha, wo sind denn meine Eltern?"
„Hallo Mercedes, deine Vater macht heute mal wieder Überstunden und deine Mutter ist mit Paris shoppen." Die liebliche, alte Dame klappte ihre Zeitschrift zu, schob ihren Stuhl zurück und ging langsam auf den Kühlschrank zu. „Haben deine Eltern mal wieder vergessen dir Bescheid zu geben, dass das Abendessen heute ausfällt?"
Und sie hatte noch angenommen, dass sich nun etwas ändern und ihre Eltern ihr mehr Aufmerksamkeit schenken würden, wenn sie einen herausragenden Collegeabschluss erlangte. Kopfschüttelnd strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht und zog ihr Handy heraus, um ein Taxi zu rufen. „Sie haben es mal wieder vergessen."
„Sei nicht traurig, Kind. Es liegt nicht an dir, sondern an ihnen. Wenn du magst, kann ich dir trotzdem etwas zu essen machen?" Mercedes schenkte ihr ein dankendes Lächeln.
„Nein danke, Martha. Ich fahre einfach wieder zurück zur Uni. Ich wünsche dir einen schönen Abend." Die alte Frau nickte ihr zum Abschied zu, bevor sie wieder in die Lobby zurückkehrte und das Haus genauso schnell verließ wie sie gekommen war. Sie umrundete den Springbrunnen im Vorgarten und schloss einen Moment die Augen, während sie den Kopf in den Nacken legte. Sie hatte den ganzen Tag im Hörsaal gesessen und gelernt. Sie sollte jetzt die letzten Sonnenstrahlen des Tages genießen. Eilig verschwand das Handy samt Schuhe in der Handtasche, bevor sie durch den Sand an der Küste entlang wanderte. Sie beobachtete einige Surfer, die die letzten Sonnenstrahlen und Wellen nutzen und verfolgte ein Pärchen, dass Händchen haltend ihrem Hund folgte, der abwechselnd durch den Sand und durch das Wasser lief. Sie liebte diese sorglosen Momente und wünschte, sie kämen öfter vor.
In der Ferne ragten die ersten Dächer der Stadt hinter den Dünen und den Bäumen auf. Der Himmel verdunkelte sich allmählich und Mercedes atmete den Duft des Meeres tief ein. Sie passierte eine Gruppe Männer, die einen Volleyball pausenlos übers Netz jagten und kletterte eine Düne hinauf, um die Sonne zu beobachten wie sie sich langsam dem Meer näherte. Sie öffnete ihren Pferdeschwanz und schloss die Augen, als ein leichter Wind durch ihre Haare strich. Sie leckte sich über die trockenen Lippen, nahm ihr Handy mitsamt Kopfhörer aus der Handtasche und steckte sie in die Ohren, um den Farbwechsel des Himmels mit Musik zu untermalen.
Die Sonne war schon beinahe untergegangen, als sich die Gruppe Männer um das Volleyballnetz auflöste. Sie registrierte aus dem Augenwinkel wie sich ein großer, muskulöser Mann langsam auf sie zu bewegte. Er hatte sich sein T-Shirt um den Hals gehangen und trug nur eine tiefsitzende Jeansshorts unter der man seine enge Boxershorts erkennen konnte, während er in einer Hand seine Schuhe hielt. Sie konnte sein Gesicht unter der schwarzen Cap und der Sonnenbrille zunächst nicht erkennen bis er nur wenige Meter vor ihr zu stehen kam. Sie zog ihre Kopfhörer aus den Ohren und sah auf, als er die Brille absetzte. Die blauen Augen waren ihr nur allzu vertraut.
„Verbringst du deine Freitagabende immer alleine?" Hayden ließ sich neben ihr in den Sand fallen, setzte seine Cap ab und bot ihr einen erstklassigen Blick auf seine trainierten Bauchmuskeln. Sie musste sich zwingen ihren Blick von ihm abzuwenden und wollte gerade ihre Kopfhörer wieder einsetzen, als er ihr einen Hörer aus der Hand nahm und selbst lauschte.
Es dauerte eine Weile eher er sein Gesicht ihr wieder zu wand und sie musterte, wobei er den Stecker losließ.
„Was spricht dagegen, dass wir wie zwei normale Menschen miteinander reden und Zeit miteinander verbringen können? Wieso blockierst du denn sofort?" Mercedes sah wieder hinaus aufs Meer. Er war noch genauso wie früher - zu Beginn ihrer Beziehung. Aufmerksam, direkt und harmoniebedürftig. Doch sie kannte ihn. Er wusste es zwar nicht, aber sie kannte seine andere Seite. So aufmerksam und friedlich er war, konnte er genauso ignorant, barsch und unfreundlich sein. Ein Stich durchfuhr ihr Herz, als sie sich an ihre letzten Begegnungen erinnerte und die Worte, die er ihr an den Kopf geworfen hat. Worte, die er genauso gemeint hatte wie er sie sagte.
„Wir funktionieren nicht zusammen, Hayden", versuchte sie ihr Glück in einem ruhigen Ton. „Es ist besser, wenn wir .. wenn du vergisst, dass du mir vergangenen Freitag am See begegnet bist. Es ist besser, wenn wir so tun, als würden wir einander nicht kennen."
Er lachte. „Wieso sollte ich das tun?"
„Für dich selbst." Stur blickte sie auf das Meer hinaus und schloss einen Moment die Augen.
„Ich wüsste nicht, wieso ich mich von der Frau fernhalten sollte, die mich mit ihrer abweisenden und doch gleichzeitig so reizvollen Art anzieht?"
Sie sah ihn aus weit aufgerissenen Augen an. „Was?"
„Oh Mary", lachend schüttelte er den Kopf, rutschte ein Stück näher an sie und stützte einen Arm hinter ihr ab. Mit der anderen Hand umfing er ihr Kinn. „Deine Brust hebt und senkt sich unregelmäßig und deine Haut ist gerötet, was alles auf Nervosität, Lust und Begierde zurückzuführen ist. Du findest mich genauso anziehend wie ich dich. Du kannst zwar sagen, dass dem nicht so ist, aber dein Körper kann nicht leugnen, was er begehrt."
Wütend stieß sie seine Hand weg, griff nach ihrer Tasche und setzte an von der Düne hinab zu rutschen, aber Hayden hielt sie fest. Sie taumelte und landete erneut auf ihm.
„Lass mich los, Hayden." Er zog sie dichter an sich, drehte sie um und schob sich über sie. Erschrocken keuchte sie auf, als sie mit dem Rücken im warmen Sand landete.
„Wieso streubst du dich?"
„Wieso akzeptierst du kein Nein?" Seine Augen begannen erneut vor Lust zu lodern und Mercedes musste schlucken.
„Weil dein Körper etwas anderes sagt. Was spricht dagegen, dass wir einander näher kennenlernen und schauen, wohin uns das Ganze führt?"
Tränen stiegen in ihr auf und sie wand ihren Blick von ihm ab. Wieso musste er ihr das Leben so schwer machen? Wieso konnte er nicht einfach akzeptieren, dass er sich von ihr fernhalten sollte? Wieso würde ihr Leben genau dann kompliziert, wenn sie es am wenigsten brauchte? „Es spricht viel dagegen."
„Was denn zum Beispiel? Du hast keinen Freund. Was sollte also dagegensprechen?"
„Woher willst du wissen, dass ..." Sie unterbrach, als er ihr noch näher kam, mit seinen Lippen über ihre Wange strich und sich schließlich ihrem Ohr näherte. Ihr Puls beschleunigte sich und sie fühlte sich, als würde ihr Herz jeden Moment ihren Brustkorb springen.
„Du sagtest, du hattest schon lange keinen Sex mehr, du bist auch kein Mädchen für unverbindliche Nächte und Mädchen wie du haben keinen Sex mit anderen Männern, wenn sie mit jemand Bestimmten ausgehen. Du hast also keinen Mann."
Sie schluckte. „Vielleicht stehe ich auf Frauen."
Hayden warf lachend seinen Kopf in den Nacken. Sie hielt den Atem an und beobachtete wie er schließlich kopfschüttelnd zu ihr heruntersah. „Du bist weder lesbisch noch bisexuell. Dafür reagierst du viel zu intensiv auf meine Reize."
„Wie meinst du das?"
„Ich meine damit, dass deine Wangen erröten, wenn ich dich nur ansehe. Wenn ich dir näher komme, zittern deine Hände und dein Puls beschleunigt sich. Du beißt dir vor Nervosität auf die Unterlippe und .."
Sie nutze den Überraschungsmoment, stemmte sich gegen seine feste Brust und warf ihn zur Seite, bevor sie hastig einen Schritt vor den Anderen setzte. Sie musste weg von ihm. Sie konnte nicht länger in seiner Nähe sein, bevor sie etwas tat, was sie später bereuen würde.
Eilig rannte sie über den Holzsteg zum Parkplatz und steuerte zielstrebig auf die Bushaltestelle zu. Der letzte Bus des Tages stand dort und war womöglich ihre einzige Chance Hayden zu entkommen, denn er würde sie sicherlich nicht einfach so entkommen lassen. Er war hartnäckig, stur, so verdammt dickköpfig.
Eine Hand legte sich um ihren Oberarm, wirbelte sie herum und im nächsten Moment hing sie schon kopfüber über einer Schulter, wobei sie den Riemen ihrer Handtasche festhielt.
„Lass mich runter", schrie sie. Sie trommelte mit einer geballten Hand auf seinen Rücken. Wütend glitt ihre Hand in eine seiner hinteren Hosentaschen und sie zwickte, woraufhin er eine ausweichende, nichtsnützende Bewegung machte. Sie zwickte ihn erneut, wobei sie gegen den Drang ankämpfte seinen festen, runden Hintern zu kneten.
„Hör auf damit." Sie zwickte ihn ein weiteres Mal und biss sich auf die Innenseite ihrer Unterlippe um nicht zu lachen. Ihr Ärger verflog viel zu schnell. Plötzlich blieb er stehen, ging in die Knie und setzte sie wieder ab. Sie schlug ihm mit einer Hand gegen den Bauch und fluchte, als sie stattdessen einen Schmerz versprühte.
„Selber Schuld. Das hättest du dir sparen können, wenn du endlich aufhören würdest andauernd vor mir wegzulaufen." Zärtlich nahm er ihre Hand in die Seinen und drückte sanfte Küsse auf jeden Finger, wodurch der Schmerz in den Hintergrund rückte. Vorsichtig lies er ihre Hand los, lehnte sich an sein Auto und sah sich nachdenklich mit in den Hosentaschen versteckten Händen an.
„Was sollte das jetzt?" Er fuhr sich mit einer Hand durch das Haar, setzte die Cap wieder auf und blickte einige Sekunden niedergeschlagen auf den Boden.
„Du hast es eben scheinbar nicht gesehen, aber in den Bus ist eine Gruppe sehr betrunkener Männer eingestiegen, die vorhin schon laszive Dinge in deine Richtung gebrüllt haben. Du hast es vorhin aufgrund der Musik nicht gehört. Ich könnte mir das nicht verzeihen, wenn dir wegen mir etwas passiert - nur, weil du von mir weg wolltest." Erst jetzt bemerkte sie die lauten Männerstimmen, die immer dichter kamen. Der Bus fuhr an ihnen vorbei und Hayden zog sie von der Straße weg, als der Bus an ihnen vorbeifuhr. In den hinteren Reihen saßen mehrere Männer, die mit dem Gesicht förmlich am Fenster klebten, die Bierdosen hoben und ihnen lallend etwas zuriefen, wodurch sich Haydens Griff um ihren Arm verstärkte. Sie fühlte sich schlecht, weil sie ihn so angefahren hatte. Sie hatte wirklich kein Interesse mit diesen Männern im Bus zu sitzen und war in diesem Augenblick froh, dass Hayden da war. Denn eines war sicher: Hayden würde niemals zulassen, dass einer Frau Schmerzen zugefügt wurden - Schmerzen, die Herzschmerzen nicht einschlossen, denn ihr Herz hatte er gebrochen.
„Danke." Er nickte ihr zu, umrundete das Auto und öffnete die Beifahrerseite.
„Ich bring dich zurück." Wortlos setzte sie sich, schnallte sich an und lauschte den leisen Klängen des Radios, als Hayden den Motor startete und sich auf den Weg zurück zu ihrem Wohnheim machte. Sie beobachtete die vorbeiziehende Landschaft, während sie gedanklich ganz bei ihm war. So aufdringlich und leidenschaftlich er war, so freundlich und aufmerksam war er auch. Sie musste ihm irgendwie beibringen, dass er sich vor ihr fernhalten musste ohne ihm zu verraten wer sie war - für ihn, für sich und für Phoebe.
Sie befeuchtete ihre Lippen, bevor sie sich ihm zu wand und die Worte, die sie sich zurechtgelegt hatte aussprach. „Hayden, du bist wirklich ein netter .."
„Nett ist die kleine Schwester von.."
„Unterbrich mich nicht", fiel sie ihm ins Wort, woraufhin er ihr ein sowohl belustigten als auch besorgten Blick zu warf.
„Wird das erneut ein Versuch mir eine Abfuhr zu erteilen?"
„Wieso lässt du mich denn nicht einfach aussprechen? Dann weist du, ob es eine Abfuhr ist oder nicht." Er schüttelte den Kopf.
„Spar es dir, denn als beste Freundin meiner Schwester kann ich dich nicht ignorieren. Wir werden uns öfter begegnen, ob du nun willst oder nicht." Mercedes schloss die Augen. Wieso musste er es ihr so schwer machen? Wieso konnte er es denn nicht einfach hinnehmen?
„Hör zu, Hayden. Du bist ein wirklich freundlicher, aufmerksamer .."
„Mary, lass.." Sie sprach einfach weiter.
„.. Mann, der nicht nur verbal mit seiner Zunge umzugehen weiß, sondern auch gut mit seinem Körper kann. Ich bin mir sicher, dass irgendwo da draußen eine Frau rumläuft, die auf dich wartet, aber .. aber ich habe bereits meine Erfahrungen mit Männern wie dir gemacht und habe zur Zeit auch kein Interesse jemand kennenzulernen, also ..." Hayden parkte vor ihrem Haus und noch bevor er richtig stand, hatte sie die Beifahrertür bereits geöffnet und sich abgeschnallt.
„Wenn du mir das nächste Mal einen Korb zu erteilen versuchst, dann versuche dabei nicht wie ein getretener Hund auszusehen und sicherer zu klingen, dann würde ich dir das womöglich auch abnehmen." Ihr Herz zog sich krampfhaft zusammen. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stieg sie aus und schloss ein ‚Lebe wohl!' murmelnd die Tür. Sie konnte seinen Blick auf sich spüren, als sie zur Veranda ging. Kraftlos glitt sie an der Haustür hinunter und stützte den Kopf auf die Knie. Sie war nicht so naiv zu glauben, dass es vorbei war und er sie von nun an in Ruhe ließ. Er würde nicht aufgeben. Es hatte gerade erst begonnen.

UnverhofftWhere stories live. Discover now