Kapitel 22

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Glücklich und erleichtert, als hätte ihr jemand eine schwere Last abgenommen, verließ Mercedes das Prüfungsgebäude und hielt an der Treppe an, um tief durchzuatmen. Es war vorbei. Ihre finale Prüfung war geschrieben. Jetzt konnte sie sich auf andere Dinge konzentrieren und sich mit den übrigen Sorgen ihres Lebens beschäftigen. Doch bevor sie sich mit ihren Eltern, dem ungewissen Einstieg bei Richards Enterprise und ihrer desaströse Beziehung zu Hayden befasst, wurde sie heute ihre Füße hochlegen, anstoßen und einmal an die guten Dinge des Lebens denken.
Mit einem breiten Lächeln auf den Lippen eilte Mercedes die Treppe herunter und warf sich Toni in die Arme, der grinsend an seinem Auto auf sie wartete.
„Und wie lief es?", fragte er, strich ihr eine lose Strähne aus dem Gesicht und musterte sie aufmerksam.
„Ich hoffe gut. Ich hab alles beantworten können."
„Du wirst es schon mit Glanznote bestehen", nickte er zuversichtlich, stieß sich von seinem Auto ab und öffnete die Beifahrertür für sie. „Dann auf zu unserem Lieblingsitalien."
Mercedes machte geraden Anstalten einzusteigen, als eine hochgewachsene Gestalt einige Meter von ihnen entfernt ihre Aufmerksamkeit erregte. Ihr rutschte das Herz in die Hose und sie zog erschrocken Luft ein, als sie den Mann erkannte. Was tat er hier? Panisch wand sie ihren Blick ab, zog Tylor die Cap tiefer ins Gesicht und zog ihn mit sich hinter die Tür in die Knie.
„Dort hinten steht Hayden", keuchte sie und Tylor wurde abrupt blass.
„Er hatte sicherlich den selben Gedanken wie ich und möchte zur Feier des Tages mit dir essen gehen."
Das konnte doch nicht wahr sein. Vorsichtig blickte sie durch das Fenster der Beifahrertür den Weg hinunter und schloss einen Moment die Augen, bevor sie sie erneut öffnete und bedauerlicherweise feststellte, dass er nicht verschwunden war. Wieso musst er hier nur auftauchen? „Was mache ich denn jetzt, Tylor?"
„Ich schätze, wir müssen wann anders essen gehen", seufzte er, warf ebenfalls einen Blick auf Hayden und pfiff anerkennend. „Eines muss man ihm lassen. Er ist noch genauso attraktiv, wenn nicht sogar ein Hauch attraktiver als damals in der High School."
„Das hilft mir jetzt nicht weiter, Tylor." Mercedes lehnte die Stirn an die Tür und betrachtete den unebnen Asphalt. Wieso musste ihr Leben nur immer so kompliziert sein? Konnte sie nicht ein Leben wie jede andere Studentin führen und Antworten auf Fragen wie ‚Welche Schuhe ziehe ich zu dem grauen Rock an?', ‚Welche Nagellack trage ich am Wochenende zu der Hausparty bei den Fußballern auf?' und ‚Sollte ich lieber mit dem Jura- oder dem Lehramtsstudenten auf ein Date gehen?' finden?
„Sieh mich an, Mercedes." Tylor hatte ihr eine Hand auf die Schulter gelegt und sah sie aus seinen nussbraunen Augen verständnisvoll an. „Ich wünsche dir nur das Beste und ich erinnere mich sehr gut daran, wie glücklich du damals mit ihm warst. Geh zu ihm, verbringe Zeit mit ihm und werde letztendlich mit ihm glücklich. Wir werden ein anderes Mal Zeit finden, um deinen Prüfungsabschluss zu feiern."
„Danke, Tylor." Dankend umarmte sie ihn, erhob sich schließlich und warf prüfend einen Blick zu Tylor. Er hatte die Beifahrertür hinter sich geschlossen, kletterte über die Mittelkonsole und ließ schließlich den Motor an. Nervös schluckte sie den Kloß in ihrem Hals herunter, blickte nach vorne und ging langsam auf Hayden zu. Er sah angestrengt zu dem Unigebäude und tippte abwartend mit den Fingern auf seinen Unterarm. In dem weißen Hemd, der schwarzen Shorts und den Sneaker an den Füßen sah er wie immer umwerfend aus. Er hatte seine Haare geschnitten und der leichte Drei-Tage-Bart verlieh ihm etwas wildes. Der Bart erinnerte sie an seine dichten, zerzausten Locken, die sie immer an einen Löwen erinnert hatten. Beim Gedanken an seine widerspenstige Mähne musste sie grinsen.
„Hallo Hayden", flüsterte sie und erregte seine Aufmerksamkeit. Hayden hatte die Augen vor Überraschung weit aufgerissen, das rasch einem erfreuten Lächeln wich. „Was machst du hier?"
„Ich wollte dich entführen. Du bist jetzt quasi mit dem Studium durch und darauf sollten wir anstoßen. Ich habe da eine Kleinigkeit vorbereitet", lächelte er, trat einen Schritt auf sie zu und zauberte einen bunten Strauß Blumen hinter seinem Rücken hervor. Fasziniert betrachtete sie das rotrosa Blumengesteck mit orangen Akzenten und sog den frischen, lieblichen Geruch ein. Sie liebte Blumen.
„Sind die wirklich für mich?", lächelte sie verlegen, blickte zu ihm auf und biss sich auf die Unterlippe. Hayden nickte.
„Wenn sie nicht für dich wären, hätte ich sie dir nicht hingehalten."
„Danke, Hayden." Unschlüssig blickte sie zu ihm auf. Sollte sie ihn küssen? Noch bevor sie weiter drüber nachdenken konnte, beugte er sich bereits zu ihr herunter, überwand die Distanz und vereinte ihre Lippen zu einem kurzen, gefühlvollen Kuss. Mercedes legte eine Hand auf seine Brust und seufzte, weil es sich in diesem Augenblick einfach richtig anfühlte. Hayden löste seine Lippen wieder von den ihren, blickte ihr in den Augen und strich ihr sanft mit einer Hand über die Wange.
„Bist du bereit für einen kleinen Ausflug?"
„Was hast du denn vor?" Er grinste.
„Das wirst du dann sehen." Ritterlich öffnete er die Tür seines Wagens für sie und schenkte ihr ein weiteres, zuvorkommendes Lächeln. „Ich bin mir sicher, dass es dir gefallen wird."
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, ließ sie sich auf dem Beifahrersitz nieder, schnallte sich an und betrachtete die wunderschönen, gut duftenden Blumen in ihren Händen. Was er wohl geplant hatte? Neugierig beobachtete sie die vorbeiziehende Landschaft und überlegte, was er mit ihr vorhatte. Sie wusste, dass es nutzlos war ihm Informationen zu entlocken. Wenn Hayden Carmichael eine Überraschung plante, dann ließ er sich nicht ein Wort aus der Nase ziehen und gab nicht einen Tipp. Er war ein Sturkopf - ein liebenswerter, romantischer Sturkopf.
Es dauerte nicht lang, da hielt Hayden auf dem Parkplatz am Strand, wo er sie sich vor wenigen Wochen über die Schulter geworfen hatte. Beim Gedanken daran wurde sie rot.
„Was machen wir hier?", fragte sie ihn, während sie ausstiegen und Hayden den Kofferraum öffnete, um ihr eine Picknickdecke in den Arm zu drücken. Wieder breitete sich auf seinem Gesicht ein Lächeln aus.
„Wir werden heute den Sonnenuntergang am Meer beobachten - wie bei unserer ersten Begegnung, nur das es diesmal das Meer und nicht ein See ist." Ihr wurde ganz warm ums Herz und sie konnte nicht anders als zu lächeln. Sie liebte diese romantische Seite an ihm. Wenn sie wollte, würde Hayden ihr die Sterne vom Himmel holen, dass bezweifelte sie nicht eine Sekunde. Sanft legte er ihr einen Arm um die Taille und sie schlenderten gemeinsam über den Holzweg zum Strand. Hayden ging zielstrebig auf eine Düne zu, nahm ihr die Decke ab und bereitete alles vor. Mercedes wand sich ab, blickte auf das Meer hinaus und lächelte. Das Meer war ruhig. Die Wellen liefen am Strand aus und abgesehen von dem Gekrächze der Möwen war es ein ruhiger, angenehmer Nachmittag. Der Stand war erstaunlicherweise kaum besucht. Zwei Hände schlangen sich um ihren Bauch und Mercedes schloss genießerisch die Augen, als sie den großen, festen Körper in ihrem Rücken spürte. Hayden drückte ihr einen zärtlichen Kuss hinter das Ohr und sie legte den Kopf schräg.
„Ich genieße jede Sekunde mit dir. Ich kann mich nicht erinnern, mich jemals bei einem Menschen so wohl gefühlt zu haben", flüstere er ihr leise ins Ohr, woraufhin sie Augen wieder aufschlug und sich langsam zu ihm umdrehte.
„Mir geht es mit dir genauso. Ich liebe es wie dein Atem über meine Haut streicht und wie du mir in jedem Augenblick das Gefühl gibst, zuhause zu sein. Bei dir fühle mich wohl", gestand sie, woraufhin das Funkeln in seinen Augen intensiver wurde. Sein Blick glitt von ihren Augen zu ihrem Mund und ihr Puls beschleunigte sich. Mercedes wusste, dass sie ihrem körperlichen Verlangen nicht so schnell nachgeben und einander zunächst noch besser kennenlernen sollte, doch sie konnte ihm nicht länger widerstehen. Die Sehnsucht nach seiner Nähe, seinen Berührungen, seinen Lippen war viel zu groß. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, schlang ihre Arme um seinen Hals und drückte ihre Lippen auf seinen weichen, fordernden Mund. Seufzend leckte sie mit ihrer Zunge über seine Unterlippe, bat stumm um Einlass und zögerte nicht, als er den Mund öffnete. Seine Hände wanderten an ihrem Rücken hinab, legten sich auf ihre Hüften und sie trat einen Schritt dichter an ihn heran, sodass nicht einmal ein Blatt Papier mehr zwischen ihre Körper passte.
„Mary", seufzte Hayden, schob sie ein Stück zurück und blickte sie aus seinen vor Lust brennenden Augen an. „Lass es uns langsamer angehen."
Mercedes holte einige Male tief Luft und trat nickend eine Schritt zurück. Rasch zog Hayden sie zurück und noch bevor sie richtig begreifen konnte was geschah, lag sie auch schon in seinen Armen. „Das soll nicht heißen, dass wir einander nicht nah sein dürfen. Ich will nur jeden kleinen Moment genießen."
Vorsichtig legte er sie auf der Picknick decke ab, öffnete die Kühlbox und zog ein paar Gläser sowie eine Flasche Sekt hervor. Lächelnd nahm sie die Gläser entgegen und beobachtete, wie er gekonnt die Flasche entkorkte, einschenkte und sich lässig neben sie setzte. Mit einem sanften Lächeln auf den Lippen bedeutete er ihr näher zu kommen und sie bettete ihren Kopf an seiner starken Brust.
„Auf dich, Mary", sagte er in ihr Haar und drückte ihr einen Kuss auf den Kopf.
„Auf dich, Hayden, und diesen schönen Abend." Sie stießen miteinander an und Mercedes trank einen Schluck, bevor sie sich noch dichter an Hayden kuschelte und das friedliche, weite Meer beobachtete.

Die Sonne war bereits größtenteils am Horizont verschwunden. Der wolkenlose Himmel wurde vom Mond erhellt und unzählige, funkelnde Sterne schimmerten über ihren Köpfen.
Mercedes bettete ihre Wange an Haydens Brust, seufzte leise und schloss die Augen, um den stetigen Geräusch seines schlagenden Herzens zu lauschen. Es fühlte sich so gut an und sie wünschte sich, dass dieser magische Moment niemals endete.
Zärtlich fuhr er mit einer Hand durch ihr Haar, wickelte sich eine Strähne um den Finger und atmete immer wieder ihren Duft ein. Er hielt sie fest und schirmte sie vor den kühlen, abendlichen Windböen ab.
„Ich wünschte, es könnte immer so sein", flüsterte sie leise. Er gab ihr einen sanften Kuss auf den Kopf. Abgesehen von dem Geräusch der auslaufenden Wellen am Ufer und den wenigen vorbeifahrenden Autos war die Nacht ruhig und friedlich.
Langsam setzte sich Mercedes auf, drehte sich zu ihm und erwiderte seinen liebevollen Blick. Ihr Herz schlug schneller und ihr Atem ging stoßweise, als sie sich vorbeugte und ihr Blick von seinen Augen zu seinen wohlgeformten, verheißungsvollen Lippen wanderte. Der Schwarm Schmetterlinge brach in ihrem Bauch aus, als sich ihre Münder ein weiteres Mal vereinten. Mercedes wusste, dass sie sich ihm nicht hingeben sollte - doch sie war absolut außerstande sich der bestehenden Anziehungskraft und dem romantischen Moment zu widersetzend. Seufzend zog Hayden sie auf seinen Schoß und intensivierte den Kuss, bevor er sich auf den Rücken in den Sand fallen ließ.
Zärtlich fuhr er mit den Händen unter ihre Top und streichelte sie. Mercedes erschauerte, löste ihre Lippen von seinen und betrachtete ihn. Im Laufe des Sonnenuntergangs hatte Hayden ihr Haarband gelöst, sodass ihre Wellen nun herabfielen und ihre Gesichter vor den Blicken abendlicher Spaziergänger verbargen.
Behutsam legte er eine Hand an ihre Wange, fuhr mit den Fingern die Konturen ihrer Lippen nach und nahm schließlich ihre Hand, um sie sich auf die Brust zu legen. Genau dort, wo in diesem Moment sein Herz schneller pochte.
„Seit ich dich zum ersten Mal gesehen hab, gehst du mich nicht mehr aus dem Kopf. Es ist mir absolut unmöglich mich von dir fernzuhalten und den Gefühlen, die du, dein Duft, deine Lippen, deine Hände, in mir auslöst, zu widerstehen", sagte er mit rauer, belegter Stimme, woraufhin Mercedes schluckte. „Mary, ich habe mich in dich verliebt."
„Hayden", keuchte sie, überwältigt von seinem Geständnis und absolut unfähig einen klaren, ihren Umständen entsprechenden Gedanken zu fassen.
„Psst." Er setzte sich wieder auf, legte ihr einen Finger auf den Lippen und zog sie mit der anderen Hand dichter an sich. „Du musst nicht sagen. Küss mich einfach." Mercedes ließ sich nicht zweimal auffordern, lehnte sich vor und kam ihrem beiden Verlangen nach. Vor Wonne seufzend gaben sie sich einander hin. Berührten sich. Streichelten sich. Küssten sich. Mercedes genoss jede Sekunde, denn sie spürte, dass ihre Zeit allmählich ablief und der Moment, in dem er die Wahrheit erfuhr, unausweichlich näher kam.

UnverhofftWhere stories live. Discover now