Kapitel 29

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„Können wir nicht nochmal darüber sprechen, Dad? Das war ein schreckliches Missgeschick", sagte Mercedes kleinlaut und sah ihren Vater flehentlich an. Stur blickte er auf die vor ihm ausgebreiteten Blätter hinab und schenkte ihr keine Aufmerksamkeit.
Mercedes hatte die Hoffnung schon aufgegeben und setzte an das Arbeitszimmer zu verlassen, als er sich plötzlich in seinem Stuhl aufrichtete, die Brille auf der Nase zurechtrückte und sie streng aus seinen eiskalten Augen ansah.
„Ein Missgeschick, Mercedes? Wenn du versehentlich vertrauliche Daten an einen Dritten weitergibst oder ein Darlehen mit überhöhtem Zinssatz abschließt, ist das dann auch ein Missgeschick? Ist es ein Missgeschick, wenn du im leichtsinnigen, betrunkenen Zustand auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung Firmenanteile verkaufst? Würdest du das auch als Missgeschick bezeichnen? Mercedes, es stehen Millionen Arbeitsplätze auf dem Spiel und mit einer falschen Entscheidung kannst du alles an die Wand fahren, was ich und zuvor mein Vater mühsam aufgebaut haben. Dieses Risiko kann ich nicht eingehen. In erster Linie bin ich Arbeitgeber und muss für das Wohl meiner Mitarbeiter sorgen und dann bin ich erst Vater. Es geht nicht, Mercedes."
Mercedes schluckte. „Ich könnte doch zuerst ein Praktikum machen, um dich von meinen Qualitäten und Qualifikationen zu überzeugen."
„Mercedes, wir haben dir bereits unzählige Chancen gegeben und jedesmal hast du uns enttäuscht. Ich habe keine Kraft mehr. Ich kann in unserem Unternehmen niemanden gebrauchen auf den ich mich nicht verlassen kann, der keinen Stress erträgt und sich von seiner Aufgabe ablenken lässt. Es hat keinen Sinn mehr." Er holte tief Luft und atmete laut aus. „Am Besten du nimmst deine Sachen und verschwindest erst einmal von hier."
Ihr Vater sah sie noch einen kurzen Moment enttäuscht an, bevor er sich wieder seinen Unterlagen zu wand und sie ignorierte. Es war aussichtslos ihn umzustimmen. Es war vorbei und Mercedes musste sehen, wie sie ihr Leben ohne die Unterstützung ihrer Eltern in den Griff bekam. Leise wand sie sich um, verließ das Arbeitszimmer und kehrte zurück in den Flur. Ihre Mutter war mit Paris zum shoppen aufgebrochen und hatte sie nicht eines Blickes gewürdigt, als sie ankam.
Seufzend blickte sie sich ein letztes Mal in der Eingangshalle um, ehe sie sich die Kiste schnappte, die einer der Angestellten auf Geheiß ihrer Eltern mit ihren wenigen Habseligkeiten gepackt hatte und verließ das Anwesen. Im Garten sog sie den vertrauten Anblick des Springbrunnens sowie der ordentlich in Form geschnittenen Büsche in sich auf, bevor sie sich auf dem Bürgersteig ein aller letztes Mal umdrehte. Auch wenn sie in diesem Haus nie glücklich gewesen war, so war es doch ihr Zuhause gewesen und ihr Zuhause zu verlieren, schmerzte.
Traurig wand sie sich um, ging zur Bushaltestelle und wartete darauf, dass der Bus eintraf und sie zurück zum College fuhr.

„Bist du sicher, dass dich von uns keiner bringen soll?"
„Nein, ich fahre mit Bus, aber danke." Widerwillig nickten Holly und Val, bevor sie sich wieder auf ihre Unterhaltung konzentrierten. Mercedes nahm einen letzten Schluck aus ihrem Wasserglas, stellte es in den Geschirrspüler und verließ die Küche, um ihr Outfit im Spiegel des Flures zu überprüfen. Ihr Haar saß wie immer perfekt und ihre Bluse war ordentlich gebügelt. Sanft strich sie die Falten aus ihrem Rock, schlüpfte in ihre schwarzen, schlichten Ballerinas und nickte dann zufrieden. Einen kurzen Moment dachte sie darüber nach, ob sie nicht vielleicht noch einen Blazer oder ein kurzes, dünnes Jäckchen mitnehmen sollte. Doch sie verwarf den Gedanken rasch. Sie stellte sich lediglich für eine Kellnerinnenstelle in einem kleinen, kaum besuchten Café vor und nicht bei einem Unternehmen, dass im Jahr Millionen umsetzte. Rasch verließ sie das Haus und machte sich auf den Weg zu den Bushaltestellen, bevor sie sich doch noch um entschied und die Jacke holte. Sie setzte die Sonnenbrille auf und blickte zu Boden, während sie in Gedanken alle die Informationen abrief, die sie zu dem Café herausgefunden hatte. Das Café stellte täglich Kuchen, CupCakes und Waffeln frisch her und servierte diese mit diversen Kaffee-, Tee- und Kakaovariationen in einem mädchenhaften, süßen Ambiente. Mercedes hoffte, dass sie die freie Stelle als Aushilfskellnerin bekäme, da das Café nur wenige Blocks von ihrem kleinen Appartement gut zu Fuß erreichbar war.
Nervös warf Mercedes einen Blick auf die Uhr atmete erleichtert aus, als diese gerade einmal fünf Minuten nach drei Uhr mittags anzeigte. Sie hatte noch knapp anderthalb Stunden, um mit dem nächsten Bus in die Stadt zu fahren und pünktlich zu ihrem Gespräch um halb Fünf im Café anzukommen. Sie überquerte gerade die Straße, um über den Platz vor der Bibliothek zu den Bushaltestellen zu eilen, als ihr Blick an einer Gruppe junger Männer hängen blieb, die es sich im Schatten mehrerer Bäume auf ein paar Bänken gemütlich gemacht hatten. Sie erkannte Hayden sofort. Seine schlanke Statur mit den breiten Schultern und den langen, trainierten Beinen wurde sie unter Tausenden immer wieder erkennen. Erschrocken blieb sie stehen und ihr Herz setzte einen Moment zu schlagen aus, als sie die anderen Männer rund um ihn herum erkannte. Liam stand direkt neben Hayden, hatte ihm eine Hand auf die Schulter gelegt und warf in diesem Augenblick lachend den Kopf in den Nacken. Auf den Bänken saßen die übrigen Jungs aus Haydens alter Schulclique: Chris, Adam und Luis.
Panik keimte langsam in ihr auf und sie machte einige Schritte zur Seite, damit sie sich nicht wie auf dem Präsentierteller den Löwen zum Fraß vorwarf. Das Hayden sie nicht erkannte, war ein mehr oder weniger glücklicher Umstand, was sie von seinen Freunden nicht erwarten konnte. Liam hatte sie bereits hier getroffen und sie bezweifelte nicht eine Sekunde, dass die anderen Jungs sie nicht sofort erkennen und etwas sagen würden. Wenn sie sie erblickten, würden sie wie Liam laut ihren richtigen Namen feststellen, woraufhin Hayden sich umdrehen und ihre Lügen auffliegen würden. Wobei es waren keine Lügen. Sie hatte ihn nicht angelogen, sondern verschwieg ihm lediglich die Wahrheit. Das war ein klitzekleiner Unterschied, der jedoch nichts an dem Resultat ändern würde.
Mercedes beobachtete einen Moment die Gruppe, ehe sie den Mut fand aus dem Schatten zu treten und mit gesenkten Kopf über den Platz zu rennen. Rasch schlängelte sie sich durch die übrigen, auf den Bus wartenden Studenten und atmete erst erleichtert aus, als sie die Männer nicht mehr sehen konnte. Wenn nun auch Chris, Adam und Luis hier waren, da würde es schwerer werden unentdeckt zu bleiben. Allein das Liam sie erkannt hatte, war ein hohes Risiko. Während sie auf den Bus wartete, überlegte Mercedes wie sie mit der neuen Situation umging. Sie musste ihm die Wahrheit sagen und zwar bald, doch zuvor musste sie ihre Sachen für den Umzug zusammenpacken, einen neuen Job finden und sich eine finanzielle Rücklage für schlechte Zeiten schaffen - ehe sie sich mit Hayden und ihrer zerbrechlichen Beziehung beschäftigte.

Jeden Tag zur Schule zu gehen, war eine Qual seit er mit ihr Schluss gemacht hatte. Mittlerweile waren sechzehn Tage, zwanzig Stunden und knapp 30 Minuten vergangenen und sie verstand noch immer nicht, was genau sie falsch gemacht haben soll. Sie war verwirrt und konnte nicht einmal mehr einschätzen, wann der Moment gewesen als ihre Traumbeziehung endete und Kummer, Leid und Schmerz an der Tagesordnung getreten war.
Mercedes holte tief Luft, rang die Tränen nieder und überquerte stur auf den Boden blickend den Schulhof. Wie immer, wenn sie das Schulgebäude betrat, in einem Flur oder Raum auftauchte, verstummten jegliche Gespräche und jeder Blick war auf sie gerichtet. Es dauerte einige Sekunden ehe Stimmen leise zu flüstern begannen. Mercedes musste keine Hellseherin sein, um zu wissen, dass sie sich über sie lustig machten und über sie tratschten. Tylor hatte ihr vor wenigen Tagen traurig die gängigen Gerüchte über sie mitgeteilt und es wäre gelogen, wenn sie behauptete, dass nicht eines davon sie verletzt hätte. Sie wurde als Lügnerin und als Flittchen da gestellt. Besonders hart hatte sie das Gerücht getroffen, in dem man behauptete, dass sie sich im Internet für Geld als Sexpartnerin anbot. Eine andere Quelle hatte im Umlauf gebracht, dass ein Teamkollege von Hayden sie an Straßenstrich im zwielichtigen Viertel der Stadt gesehen und für einen Blowjob bezahlt habe. Obwohl jeder wusste aus welcher Familie sie stammte, wurden die Gerüchte immer kurioser. Und Mercedes hatte das Gefühl, dass jeden Tag eine neue Geschichte in Umlauf gebracht wurde.
Beim Gedanken daran wie ihr Vater sie gestern in sein Büro zitiert und wie unangenehm das Gespräch gewesen war, drehte sich ihr der Magen um. Es war lediglich eine Frage der Zeit gewesen, ehe ihr Vater von Allem erfuhr und wie sauer er über eine derartige Beschmutzung ihres guten Rufes wäre.
Mercedes konnte nicht einmal erleichtert aufatmen, als sie die Treppe zu ihrem Klassenzimmer hinaufstieg und dort auf Tylor traf. Langsam hob sie ihren Blick und ihr Herz zog sich schmerzlich zusammen, als sie zu der Jungenclique sah, die tragischerweise ihr Klassenzimmer direkt neben ihrem hatte. Hayden blickte stur auf sein Handy, während er lässig an der Wand lehnte und mit einer Hand durch sein wildes Haar fuhr. Seine Freunde warfen ihr herablassende, vernichtende Blicke zu, bei denen sich ihr Herz schmerzlich zusammen zog.
Manchmal, in einem sehr schwachen Moment, wünschte Mercedes sich, dass sie Hayden an Weihnachten in der Bibliothek niemals getroffen und schließlich mit ihm zusammen gekommen wäre. Hätte sie gewusst, dass jeder auf der Schule einen solchen Hass ihr gegenüber bringen konnte, dann wäre sie niemals mit ihm soweit gegangen und dann wäre sie heute wahrscheinlich noch die unscheinbare, erstklassige Musterschülerin, der eine herausragende Zukunft bevorstand.

UnverhofftWhere stories live. Discover now