Kapitel 27

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Kraftlos blickte Mercedes an die Decke ihres Wohnheimzimmers und sinnierte vor sie hin, wie ihr Leben wohl in den kommenden Monaten aussehen würde? Ihre Zeit im Wohnheim mit ihren Freundinnen waren so gut wie abgelaufen und ihr blieben nicht mehr als fünf Tage. Fünf Tage, in denen sie ihre Sachen zusammenpacken und zu ihrer neuen Wohnung bringen musste. Fünf Tage, in denen sie sich eine Rücklage für schlechte Zeiten schaffen und sich eine Perspektive erarbeiten musste. Fünf Tage, bis sie völlig allein ihr Leben bewältigen musste.
Seufzend setzte sie sich im Bett auf und blickte sich in ihrem Zimmer um. Hier war sie glücklich gewesen. Hier hatte sie Pläne für eine vollkommene Zukunft geschmiedet. Und hier sollte sie von ihrem sorglosen Studentenleben in ein vielversprechendes Leben in der Arbeitswelt wechseln. Ihr Blick glitt über ihre hellen Möbeln, ihre geliebte Büchersammlung zu ihrem mit diversen, teuren Kleidermarken gefüllten Kleiderschrank sowie die kleine Ansammlung an Schmuck. Ob sie sich eines Tages all diese Dinge wieder leisten konnte? Im Moment hatte sie nicht die Kraft dazu positiv zu denken, Pläne zu schmieden und aus ihrem tiefen, depressiven Lochen zu kommen. Im Moment wurden ihre Gedanken von zu vielen belastenden Geschehnissen getrübt, als dass sie diese einfach beiseite schieben und sich mit existenziellen Problemen befassen konnte. Ihr war bewusst, dass es absolut fatal war - aber sie war außerstande anders zu agieren.
„Ach verdammt", fluchte sie, band ihre Haare zu einem unordentlichen Dutt und stieg die Treppe ins Erdgeschoss hinab. In der Küche klirrten die Töpfe und Mercedes durchschritt zielstrebig das Esszimmer. Holly stand vor einem Schrank, sortierte gerade die Töpfe wieder ein und stand schließlich freundlich lächelnd auf. Ihr Lächeln wich einer besorgten Miene als sie ihren schluderigeres Anblick bemerkte. Mercedes trug ihre Haare nie unfrisiert. Kombiniert mit dem ausgeleierten T-Shirt und der viel zu weiten Jogginghose, die sie in der hintersten Ecke ihres Schrankes gefunden hatte, bot sie keinen Anblick, den ihre Eltern begrüßen würde. Was ihre Eltern von ihr hielten, war in diesem Augenblick unwichtig. Möglicherweise hatte sie sich gerade wegen ihre hochnäsigen, elitären Eltern für dieses Outfit entschieden, weil sie wusste, dass ihre Mutter einen Herzinfarkt erleiden und ihr Vater sich für sie in Grund und Boden schämen würde.
„Du siehst gar nicht gut aus, Mary. Kann ich dir einen Tee kochen oder magst du einen warmen Kakao mit Sahne und Schokostreuseln?"
„Nein, danke." Mercedes ließ sich ächzend auf einen Hocker der Theke fallen.
„Ist irgendetwas passiert? Haben Hayden und du euch gestritten?"
„Es ist viel passiert. Es ist nicht nur Hayden." Holly stellte den Topf auf dem Herd ab, zog zwei Tassen aus einem anderen Schrank und goss etwas Milch in den Topf.
„Magst du mir erzählen, was passiert ist? Manchmal hilft es, wenn man mit jemanden darüber redet."
„Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll. Meine Eltern haben mir den Geldharn zugedreht und ich muss ab jetzt irgendwie meinen Lebensunterhalt selbst bestreiten. Hinzukommt noch, dass ich einen alten Bekannten wiedergetroffen habe. Er ist Haydens bester Freund, Holly. Und jetzt ist auch nicht der richtige Zeitpunkt, um ihm mitzuteilen, dass ich seine Ex-Freundin bin. Außerdem weiß ich immer noch nicht, wie er auf die Idee kam, dass zwischen Tylor und mir mal etwas anderes als Freundschaft war. Außerdem ..." Tränen bildeten sich in ihren Augen und sie legte den Kopf in die Hände. „Außerdem hat er mich damals betrogen. Kurz bevor er sich von mir trennte, sagte er mir, dass er mit anderen Mädchen ausgegangen war und ich lediglich zum Ficken gut war."
„Nein, das .." Holly sah sie entsetzt an. Mercedes zuckte mit den Schultern, während sich die erste Träne sich ihren Weg ihre Wange hinab bahnte.
„ Holly. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Ich kann Phoebe nicht erreichen und mein Leben steht völlig auf dem Kopf. Alles entgleitet mir und ich bin absolut unfähig zu erfassen, welches meiner Probleme ich zuerst lösen soll, weil mich alles gleichstark belastet."
„Ach, Mary. Ich werde dir helfen", sagte Holly, während sie sie liebevoll in die Arme nahm und ihr beruhigend über den Rücken strich. „Du weist, dass wir immer für dich da sind. Wie wäre es, wenn wir uns gleich in deinem Zimmer treffen und über die Bewältigung deiner Probleme reden. Ich bring eine heiße Schokolade mit Sahne und Streuseln mit. Ist das ein Deal?"
Mercedes schniefte. „Wie soll ich das jemals wieder bei dir gut machen, Holly?"
„Ich vollbringe jeden Tag eine gute Tat. Ich brauche keine Gegenleistung."
Mercedes atmete tief durch, erwiderte das warmherzige Lächeln ihre Freundin und stand dann auf, um wieder die Treppe hinaufzugehen. Sie hatte gerade die ersten Stufen überwunden, als es an der Haustür klingelte. Mit gerunzelter Stirn hielt sie inne und drehte sich zu der Tür um.
„Ich gehe schon", rief Holly, kam aus dem Esszimmer gerannt und riss die Tür mit viel Schwung auf. Mercedes wollte gerade ihre Weg fortsetzen, als der Klang der vertrauten Stimme auf der Veranda sie aufhielt.
„Hallo Holly. Ist Mary da? Ich habe am Strand auf sie gewartet und sie ist nicht gekommen."
„Ich weiß es nicht. Einen Moment, bitte." Holly warf die Tür wieder zu, drehte sich zu ihr um und zog fragend eine Augenbraue nach oben. „Willst du mit ihm reden?"
Allein der Klang seiner Stimme ließ ihr Herz schneller schlagen und entfachte in ihr ein Feuer der Sehnsucht wie sie es noch nie zuvor empfunden hatte. „Er wird nicht gehen, wenn du ihm sagst, ich sei nicht da."
„Du musst zugeben, dass schon irgendwie schon romantisch ist." Mercedes lächelte traurig.
„Leider ja. So war er schon immer."
Holly kam ein paar Schritte auf sie zu und flüsterte dann leise: „Sein bester Freund hat dich erkannt, oder?"
Mercedes nickte.
„Ich kann es eigentlich nicht beurteilen, aber ich an deiner Stelle würde jetzt zu ihm rausgehen und mich mit ihm verabreden, um dann an einem neutralen Ort die Wahrheit zu sagen. Das Schlimmste wäre, wenn Hayden es von seinem besten Freund erfährt. Du musst es ihm sagen, bevor dieser die Gelegenheit dazu hat, Mary."
„Es ist schwer."
Holly legte ihr optimistisch lächelnd eine Hand auf die Schulter. „Ich kann es mir vorstellen, aber denk daran, was ich dir vor einigen Wochen gesagt habe. Kämpfe für die Liebe, denn der Schmerz es zu verlieren ohne gekämpft zu haben, ist viel schlimmer."
„Danke, Holly."
Holly zwinkerte ihr zu, bevor sie sich ab wand und wieder Richtung Esszimmer ging. „Unser Date in deinem Zimmer steht noch, aber stress dich nicht mit ihm, weil ich auf dich warte. Du machst das schon, Mercedes."
Damit verschwand Holly und ließ sie am Absatz der Treppe stehen. Mercedes holte tief Luft, öffnete die Augen und lockerte dann ihren Zopf, um sich die Haare erneut zu binden. Sie zählte von Fünf herab, ehe sie die Tür öffnete und den wunderschönen, ozeanblauen Augen begegnete. Das glückliche Lächeln erstarb und er beäugte sich besorgt. „Mary, ich hab mir Sorgen gemacht. Was ist los? Wir treffen uns normalerweise Samstag morgens am Strand."
Leise schloss sie die Tür hinter sich und kam sich mit einmal nicht mehr so wohl in ihrem Outfit. Kopfschüttelnd verdrängte sie die Gedanken daran, wie ihre Eltern diesen Moment kommentieren würden. Hayden war hier und sie sollte sich zunächst einmal auf ihn konzentrieren. Nicht, dass sie in einem unaufmerksamen, schluderigeres Augenblick etwas sagte, was alles ruinierte.
Nervös schluckte sie den Kloß im Hals herunter, setzte sich auf die Treppenstufen der Veranda und legte den Kopf auf die Knie, während ihr Blick durch den liebevoll dekorierten, gepflegten Vorgarten glitt.
„Mary, ich mache mir Sorgen. Seit dem Tag, an dem wir zusammen geduscht haben, bist du so abweisend. Ich habe das Gefühl, dass wir in unsere Beziehung zurückgehen, anstatt das wir weiterkommen. Mary, ich ..." Ihr Herz drohte ihr aus der Brust zu springen und sie spürte schon wieder wie ihr die Tränen in die Augen steigen. Es war einfach ein bisschen viel im Moment. Schwermütig presste sie die Zähne aufeinander, schloss die Augen und griff blindlings nach seinen großen, starken Händen.
„Hayden, es ist nicht das .."
Er hatte sich dicht neben sie gesetzt und sie konnte spüren, wie er jede ihrer Gesten beobachtete, um zu erahnen, was ihr in diesem Augenblick durch den Kopf ging. „Mary, ich mache mir Sorgen. Was ist denn los? Bist du etwa abweisend zu mir, weil ich nicht auf der Stelle mit dir in der Dusche vögeln wollte. Ich dachte, wir hätten das ..."
„Es ist nicht wegen der Dusche, Hayden."
„Was ist es dann, Mary? Was ist los? Du antwortest seit Tagen nicht auf meine Nachrichten und dann tauchst du auch zu unserem samstäglichen Joggen nicht auf."
„Meine Eltern haben mich rausgeworfen und unterstützen mich finanziell nicht weiter, Hayden. Ich wollte nach meinem Studium bei meinem Vater im Unternehmen anfangen und jetzt stehe ich alleine da."
„Mary, ich ... es tut mir leid." Langsam blickte sie zur Seite und musterte ihn. Seine wunderschönen Augen. Seine vollen, sinnlichen Lippen. Sein attraktives, männliches Gesicht. Die athletische, hochgewachsene Statur mit den breiten Schultern, durchtrainierten Armen und dem festen Oberkörper. Er entglitt ihr und ihre gemeinsame Zeit als Hayden und Mary lief ab. Sie sollte ihre letzten gemeinsamen Momente genießen, bevor er sie dafür verabscheute, dass sie ihn die ganze Zeit an der Nase herumgeführt hatte. So sehr sie auch hoffte, dass Holly recht behalten und die Geschichte von Mercedes Richards und Hayden Carmichael ein Happy End haben würde - so sehr machte sie sich darauf gefasst, dass er dort fortsetzte, wo ihre erste Beziehung geendet war.
„Küss mich, Hayden." Hayden blickte sie mit weit aufgerissenen Augen überrascht an.
„Bitte?"
„Tu mir den Gefallen und küss mich einfach."
„Das wird doch kein Abschied, oder?" Mercedes zögerte nicht, als sie sich vorbeugte, ihre Arme um seinen Hals schlang und ihre Lippen vereinte. Sie legte alle ihre Empfindungen in diesen einen Kuss, der ihm hoffentlich verdeutlichte wie sehr sie ihn begehrte. All die Liebe, die sie für ihn empfand. All die Sehnsucht, die sie in jeder Sekunde begleitete, wenn er nicht da war. All die Lust, die er in ihr entfachte und die sie nicht völlig auskosten konnten. Seufzend intensivierte sie ihren Kuss, schwang ein Bein über seins und setzte sich rittlings auf seinen Schoss, während sie ihre Hände in seinem Haar vergrub, um ihn noch dicht an sich zu ziehen und ihn davon abzuhalten, den Kuss viel zu früh zu beenden.
Lustvoll keuchend beendete sie den Kuss, legte ihre Stirn an die Seine und ignorierte die Stiche, die ihr Herz durchzog, wenn sie nur daran dachte, dass dies womöglich ihr letzter Kuss gewesen sein könnte.
„Ist das ein Abschied, Mary?", fragte er mit belegter Stimme und ihr jagte ein wohliger Schauer über den Rücken.
„Ich weiß es nicht, Hayden."
Seine Hand legte sich an ihre Wange und liebkoste ihre vor Erregung erhitzte Haut. „Bitte, lass dies kein Abschied sein."
„Ich weiß es nicht, Hayden", wiederholte sie traurig. „Ich brauche Zeit."
„Ich werde dir Zeit geben und bitte dich, uns nicht aufzugeben."
Langsam hob sie ihren Blick und begegnete seinem deprimierten, sehnsüchtigen Blick. Seine Augen hatten diese besondere Flackern, dass sie früher schon an ihm geliebt hatte. Diese Flackern, dass die Ehrlichkeit seiner Worte unterstrich - als wenn sie sie nicht sowieso schon glaubte. Er mochte sie wirklich und sie würde ihm erneut das Herz brechen. „Es tut mir so leid, Hayden."
Rasch entfernte sie seine Hände von ihrem Körper, stand auf und verschwand rasch wieder im Haus. Seufzend glitt sie an der Tür hinab, als diese ins Schloss fiel und schloss die Augen, als das Bild vor ihren Augen immer weiter verschwomm. Es brach ihr das Herz ihn alleine auf der Treppe ihrer Veranda zurückzulassen geplagt von der Ungewissheit, ob die Frau, der er sein Herz geschenkt hatte, es ihm zurückbringen oder ein zweites Mal damit davon laufen würde.

UnverhofftWhere stories live. Discover now