⊱Kapitel 59⊰

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Mitten in meiner Bewegung erstarre ich und so bleiben meine Hände fest mit dem Lenkrad verbunden. Ich habe mit vielem gerechnet, dass er mich beleidigen oder verfluchen würde, nur nicht mit Ehrlichkeit und einer schrecklichen Offenbarung.

»Ich war sieben, als sie an einer Überdosis Heroin mitten im Wohnzimmer gestorben ist. Sie war todkrank. Hirntumor im Endstadium und ich war der einzige, der für sie da war. Wo war dieser Bastard von Vater als sie ihn gebraucht hat? In einer Bar und hat sich lieber besoffen, als für seine Familie da zu sein!«

Evan, der mit verkrampften Fingern den Beifahrersitz umklammert, sieht mich nicht für eine Sekunde an. Mein Mund ist plötzlich wie ausgetrocknet.
»Es tut mir unglaublich leid«, murmele ich nach einiger Zeit, doch Evan schnalzt nur missbilligend mit der Zunge.

»Ich will dein beschissenes Mitleid nicht!«, blafft er ungehalten. »Was glaubst du, warum ich niemandem davon erzähle? Dieses fucking Mitleid, ich ertrag’s einfach nicht länger!«

»Ich habe kein Mitleid, ich möchte für dich da sein und dir helfen.«
Er lacht spöttisch.
»Mir kann niemand helfen! Verstehst du? Niemand, weil meine Mutter für immer tot bleiben wird!«

Darauf weiß ich keine Antwort, aber die brauche ich auch gar nicht, da Evan einfach weiterspricht. Einmal ausgesprochen, scheint für Evans Redefluss kein Stopp mehr zu existieren.

»Dieser Mistkerl von Vater hat mir die Schuld für Moms Tod gegeben. Er hat’s nie gesagt, aber ich hab’s in seinem Blick gesehen. Und dann hat er plötzlich die ach so tolle Kate kennengelernt und alles hat sich geändert. Hat für sie den fürsorglichen Vater gespielt, dem alles leid tut und ist mit mir nach Phoenix gezogen, um sie zu heiraten. Ich scheiß auf seine geheuchelte Reumütigkeit!«

»Evan ... bitte lass mich für dich da sein und ...«
»Nein!«, unterbricht er mich barsch und verlässt das Auto, schmettert die Tür zu und stapft in Richtung Haus. Erschrocken zucke ich zusammen. Erschüttert und mit vor Schock geweiteten Augen, schaffe ich es meinen Körper dazu zu zwingen Evan zu folgen.

Wütend starrt er zurück, die Hände zu Fäusten geballt, als ich ihn kurz vor der Haustür einhole.
»Was willst du noch, Maggie? Mir Schuldgefühle einreden, weil ich einen Typen verprügelt habe? Weil mein Vater jetzt eine perfekte neue Familie hat und auf meine Mutter scheißt? Führ dich gefälligst nicht wie Mutter Theresa persönlich auf und akzeptiere, dass nicht immer alles wie im Bilderbuch verläuft!«

Evans Art macht mir zu schaffen, aber seine grässlichen Worte helfen mir mich aus meinem Schock zu befreien.
»Das tue ich überhaupt nicht, Evan. Ich verurteile dich nicht, mache dir keine Vorwürfe und trotzdem bist du gemein, nein, du bist grausam!«, fauche ich. »Warum legst du es immer darauf an mich zu verletzten?«

Evans Gesicht wird ausdruckslos.
»Das ist keine Absicht«, murmelt er.
»Ach nein?«, erwidere ich mit einem freudlosen Lachen. »Warum tust du’s dann?«

»Ich ... kann mit meinem Zorn nicht wirklich gut umgehen, wenn ich getrunken habe. Es tut mir leid, Maggie.«
»Dann hör auf zu trinken. Wenn du es tust, bist du noch unausstehlicher als ohnehin schon.«

Ich erwarte, dass Evan sagen wird, dass ich ihm überhaupt nichts vorzuschreiben habe, doch zu meiner Verwunderung nickt er.
»Okay.«
»Es tut mir unleidlich leid, Evan. Niemand hat so ein Schicksal verdient«, flüstere ich. »Auch wenn du das nicht hören willst.«

Evan legt den Kopf in den Nacken und blickt zu den Sternen empor. Ich folge seinem Blick in das ungetrübte Himmelszelt.

»Meine richtige Mutter hieß Juliette Davis. Sie waren verheiratet.« Wider erwartend lächelt Evan leicht. »Wir waren glücklich in Washington, musst du wissen. Alles war gut, bis Mom plötzlich über starke Kopfschmerzen klagte. Zuerst dachte sie sich nichts dabei, doch dann wurden sie immer schlimmer. Ich erinnere mich an einen Arzt im Krankenhaus. Dad hat geweint und Mom hat mich fest umarmt. Hirntumor. Die Diagnose hat alles vernichtet.«

In Evans Augen glitzern Tränen und auch ich blinzele heftig.
»Mein Vater hätte bei uns sein sollen, aber das war er nicht. Als er von der Diagnose erfuhr, ertrank er in seiner Trauer und im Alkohol. Er war nie da und wenn doch, war er so dicht, dass er das Elend nicht sehen musste, in dem meine Mutter und ich lebten. Wäre er bei Verstand geblieben und hätte sich um Mom gekümmert ... der Arzt gab ihr zu diesem Zeitpunkt noch drei Monate, aber das Heroin ... die Überdosis ... Wir waren allein, als sie starb. Ich habe alles versucht, um ihr zu helfen. Mein siebenjähriges Ich hat zwei Tage lang mit ihrer Leiche im Schlafzimmer gesessen und sie versorgt ... bis unsere damalige Nachbarin an der Tür klopfte, um sich Zucker zu borgen. Danach ist alles verschwommen, doch ich träume immer wieder davon«, gesteht er, während Tränen über seine Wangen rollen.

Keine Worte hätten es vermocht Evan den Schmerz zu nehmen und seine Trauer überflüssig zu machen. Wenn überhaupt, hätten sie alles schlimmer gemacht. Ich nehme seine Hand, als Zeichen, dass ich für ihn da bin und versuche mich an einem milden Lächeln. Letzteres gelingt mir nicht.

Ich verstehe endlich, aus welchen Gründen Evan seinen Vater im Kino angeschrien hat, warum er ihn hasst. William hätte für seine Familie da sein sollen, stattdessen war er in den Drogenkonsum geflüchtet – doch dasselbe hatte auch Evans Mutter getan.
Vielleicht waren sie alle verzweifelt gewesen und hatten keinen anderen Ausweg gesehen und dabei Evan komplett vergessen ...

Alles, was Evan jemals getan hat, ergibt plötzlich auf schmerzliche Weise Sinn. Seine Aggressivität, die von dem Hass auf seinen Vater und ihm selbst zeugt, seine grausamen Worte, um jeden von sich zu stoßen, der ihm wichtig werden könnte. Aus Angst die Person würde ihn irgendwann verlassen, so wie ihn einst seine Mutter verließ.

Der Hass zu seinem Vater, weil er ihn in Stich ließ. Dass er sich mittlerweile geändert hat und seine Untätigkeit aufrichtig bereut ... all das zählt für Evan nicht. Für ihn ist an dem Tag als seine Mutter starb, auch sein Vater ins Reich der Toten übergetreten.

»Schon gut, nicht weinen, Maggs.«

Als Evan mich an seine Brust zieht und fest umarmt, lasse ich es geschehen. Denn ich brauche ihn und seine Nähe mindestens genauso sehr, wie er mich in diesem Moment benötigt.
»Lass mich heute Abend nicht allein«, murmelt er in mein Haar.
»Werde ich nicht«, verspreche ich.

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