Lesenacht Teil 1: Erinnerungen an Vater

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3 Jahre, 4 Monate und 13 Tage zuvor. Oder: Sogar noch bevor alles begann.

          Es hatte etwas morbides an sich, einen Baum mit einem Ast zu verprügeln. Und ich betete innerlich, dass es auf diesem Zirkel keine Gottheit geben mochte, die daran Anstoß nahm. Aber mir fehlte es nun mal nicht nur an Schwertern, sondern auch an passenden Gegnern. Die meisten Jungen hatten bereits ihre Lehren bei ihren Vätern begonnen. Und Mortim, der Jüngere der beiden Bäckerssöhne, mied mich, seitdem ich ihm ein blaues Auge verpasst hatte. Feigling.

Ich wiederholte die Parade, jede Bewegung meines Vaters rezitierend, seine Stimme stets korrigierend im Ohr. ‚Du hebst die Ellenbogen zu hoch, Dinah. Jeder passable Knappe könnte dir so den Arm abtrennen.' ‚Sieh nicht auf dein Schwert, Dinah. Schau da hin wo du sie treffen willst.' Er hatte stets viel zu korrigieren gehabt. Und dann hatte er mich gekitzelt, bis ich keuchend am Boden lag.
Die Erinnerungen wärmten mich von innen. Ich ließ die Arme sinken und berührte stattdessen die Kette um meinen Hals. Nur für ihn kam ich noch hier raus.

Ich hatte ihn geliebt. Einer der weisesten Männer, die ich kannte. Er war weit gereist. Wir hatten daheim Mitbringsel aus mindestens drei Zirkeln gehabt. Vasen und Bücher, Bilder und manchmal auch einfach nur einen Stein, den er auf dem Weg gefunden hatte. Außer ihm kannte ich niemanden, der auf dem Festland unten gewesen war. Von dort hatte er meiner Mutter einen Quilt mitgebracht, um sie warm zu halten, wenn sie nachts zusammen auf der Sicherheitsmauer saßen und hinunter blickten. Doch für mich blieb der Erdboden Welten entfernt.

„Ah, Dinah. Ich habe überall nach dir gesucht."
Ich drehte mich zu einem Mann in grüner Robe um, die er mit einem breiten Gürtel an der Taille zusammengerafft hatte. Die Ärmel waren gerade weit genug, dass sie den Blick auf ein fürchterlich hässliches Armband freigaben in einem hellen beige, vielleicht einmal weiß gewesen?
Der Mann war schmal und groß, mit einem freundlichen Zug um den Mund, der einen stets das Lächeln erwidern ließ. Interessiert glitten seine dunklen Augen über meine Hosen.
„Darf man fragen, was du hier draußen tust? Mit einem Stock?"

„Onkel Dara!", ich bemühte mich um einen hastigen Knicks, „Ich äh...Ich frische alte Angriffslektionen auf. Von meinem Vater."

Schmunzelnd trat er näher.
„Die wahre Berufung einer Dame, wie ich sehe."

Ich zog den Kopf ein. Meine Schulleiterin wäre sicherlich nicht glücklich, wenn sie wüsste, wo und vor allem wie ich meine freien Feyentage verbrachte, während alle anderen brav ins Gebet vertieft waren. Mein Onkel zahlte ihr viel für diese Erziehung.
Ich biss mir auf die Unterlippe. „Es tut mir leid..."

Doch Dara Sarei schüttelte vehement den Kopf.
„Das sollte es aber nicht." Er stellte sich neben mich, vielleicht eine Handbreit größer als meine eigene Gestalt und betrachtete den Baum, „Es sollte dir niemals leidtun, wer du bist. Unser Gott hat dich aus einem Grund so erschaffen. Und wir würden ihn nicht damit enttäuschen, dass wir genauso wären wie jeder andere auch, oder?"

Ich schüttelte den Kopf, seine Worte in meinem Verstand hin und her drehend. Warum würde ein Gott ausgerechnet einem Mädchen die Fähigkeiten geben ein Schwert zu führen? Nicht, dass ich nicht stolz darauf war, was mein Vater mir beigebracht hatte. Aber ich konnte mich als Frau nicht bei der Stadtwache oder den Soldaten des Palasts bewerben. Unser Zirkel pflegte schon so lange den Frieden, dass das Königshaus selbst auf die Ermordung der Königin nicht eingegangen war, nur um ihn zu wahren. Wo würde ich diese Fähigkeiten also einsetzten? Und die anderen sagten... Ich zögerte. Es war egal, was die anderen sagten. Sie sahen genauso wenig in die Zukunft wie ich.

Das Königreich der Geheimnisse - Band 1Where stories live. Discover now