Lesenacht Teil 2- Im Wohnzimmer der Toten

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           Die Katakomben der Ke-enen trugen ihren Namen zu Unrecht. Niemand konnte mir erzählen, dass die Toten bei dem andauernden Gewusel der Menschen ruhten. Es war beeindruckend, wirklich. Während Constantin und sein gesamter blinder Hofstaat dachten, sie hätten es mit einer rebellierenden Priestergruppe von maximal zwei Dutzend Männern zu tun, hatte sich direkt unterhalb ihrer Hauptstadt eine Subkultur gebildet.

Sie bevölkerten die von Fackeln beleuchteten Gänge, standen in kleinen Gruppen zusammen und drehten die Köpfe in meine Richtung, wenn ich in ihre Nähe kam. Ein kurzes erkennendes Kopfnicken oder eine knappe Verbeugung, dann wandten sie sich wieder ihren Gesprächen zu oder eilten weiter.

Hier war ich eine von ihnen. Aber keine Königin.

Der sandige Boden verschluckte meine hastigen Schritte, als ich dem Türöffner hinterher eilte. Mein Blick glitt über dutzende, in die Wände eingelassene Gräber; einige namenlos, andere sogar mit Bildern verziert. Als Kind hatte ich sie alle gekannt. Ich hatte ihre Namen gelernt, wenn ich hier unten gespielt hatte, während mein Vater wichtigen Sitzungen beiwohnte, die nichts für kleine Kinder waren. Ich hatte mir ausgemalt, was für Menschen sie wohl gewesen waren und wie ihr Leben ausgesehen haben mochte. Jeder aus der Stadt kam hier herunter. Die Bettler wurden in Massengräber gelegt, aber wer es sich leisten konnte kaufte sich für ein paar Jahre einen Platz zum Ruhen.
Allein die königliche Familie wurde unter dem Himmel begraben. Mit ihnen hatte ich nie gespielt.

Die Erinnerungen kleisterten sich wie Honig über meine Sicht und ich kämpfte schwer, einen klaren Kopf zu bewahren. Ich kannte den Weg, den wir einschlugen: zur unterirdischen Halle.
Keine Karte verzeichnete das riesige Gewölbe, das irgendwann einmal einen Teil der Stadtmauer einstürzen lassen würde. Die Ke-enen hatten sie nachträglich erbaut, als sie diese Gemäuer für sich beanspruchten.

Eine steinerne Tür konnte die Hallenöffnung falls nötig verschließen, doch aus praktischen Gründen lag sie stets rechts neben dem Eingang. Dahinter befand sich ein Raum, der nach bürgerlichen Standarten mindestens über zwei Stockwerke hoch reichte, mit einer runden, steinernen Decke.

Als Kind hatte ich hier drinnen einen Thron erwartet.
Es erschien nur logisch: Die Ke-enen hatten genauso ein Oberhaupt wie die Bewohner dieser Stadt. Nur bevorzugte dieses Oberhaupt einen Altar in der Mitte des Raums und eine dichte Gruppe an Berater.

Auf das Räuspern meines Türöffners hin, drehte sich Dara Sarei um.

Ich klammerte mich an meine gleichgültige Maske, während hunderte Eindrücke um meine ungeteilte Aufmerksamkeit kämpften. Er hatte sich nicht viel verändert: Einzelne graue Strähnen, der Backenbart war frisch gestutzt und sein dunkelgrüner Umhang vielleicht eine Spur weiter und ausgetragener.
Aber es waren dieselben freundlichen Augen, die ihre Intelligenz wie ein Schwert führten.

Als sie auf mich fielen, wurden sie weich und er breitete die Arme aus. Selbst das hässliche beige-braune Armband war noch da.
„Dinah. Es ist stets eine Freude dich zu sehen."

Das hallende Gemurmel duzender Gespräche wurde erst zu einem Flüstern und erstarb dann ganz. Jeder Gläubige war in den Katakomben willkommen. Es war ihr Zufluchtsort. Der Platz, an den sie ihren Glauben frei leben durften. Aber die Leute innerhalb der unterirdischen Halle waren die Aktiven. Die handelnde Kraft hinter den Idealen der Ke-enen.
Hier trafen sich die Strategen und Assassinen. Die Rekrutierenden und Ausführer. Jede kleine rebellische Tat gegen den Willen des Primus fand hier unten seinen Ursprung.

Und ich versuchte krampfhaft, ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu ignorieren.
Mit einem eher angestrengten Lächeln trat ich näher, jedoch nicht in die angebotene Umarmung hinein. Was ich zu sagen hatte, musste nicht durch den ganzen Raum gebrüllt werden.
„Ich bin nur gekommen, um mich für die netten Grabblumen zu bedanken", erwiderte ich ruhig, „Und vielleicht dafür, dass ihr meinen Ex- Ehemann in die Schulter geschossen habt."
Ich hatte noch nicht entschieden, ob das etwas Gutes oder Ärgerliches war.

Das Königreich der Geheimnisse - Band 1Where stories live. Discover now