Kapitel 45

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Ich schluckte.

Was sollte das denn bitte jetzt?

Mit meinem Fuß tippelte ich nervös auf den Fußboden des Klassenzimmers und schob das Stückchen Papier zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her.
Zusätzlich schaute ich nervös auf und ab, schnappte mir einen Stift und schrieb den Tafelanschrieb ab, um mich ablenken zu können. Na ja, zumindest hoffte ich es – aber vergebens.

Wieso jetzt?

Nach so vielen Wochen, in denen er es nicht für nötig gehalten hatte, ein Wort mit mir zu wechseln, kam er jetzt bei mir an? Am ersten Schultag des neuen Schuljahres?

Für mich klang es diesen Sommer viel mehr danach, als ob es aus war mit unserer Freundschaft. Wie aus dem Nichts, und das nur, weil ich Liam näherkennenlernte und er offensichtlich ein Problem damit hatte. Woran genau das lag, konnte ich nicht zu hundertprozentig beantworten – ich hatte lediglich eine kleine Vermutung. Na gut, ich hatte vielleicht zwei Vermutungen.

Die zweite gefiel mir ein wenig besser als die erste, aber auch die war mir nicht besonders geheuer und ich spürte plötzlich Junes Blick auf mir, der meine Gedanken für einen Moment unterbrach. Als ich sie ansah, war die Furche zwischen ihren Augenbrauen tief und ihren Augen waren gefüllt mit Sorge und Neugier zugleich. Mit einer möglichst unauffälligen Handbewegung versuchte ich ihr weiß zumachen, dass ich ihr diese Angelegenheit später erklären würde und versuchte mich auf die Worte unserer Lehrerin zu konzentrieren, die hoffentlich nicht bemerkt hatte, was gerade vor sich ging.

Englisch war zwar eines meiner liebsten Fächer in der Schule, aber meine Gedanken wickelten sich wie ein dickes Seil immer und immer wieder um den Zettel und um die wenigen Wörter, die darauf standen und ließen somit kaum Freiraum für andere, viel sinnvollere Gedanken. Was auch immer es war, es schien, wie er selbst geschrieben hatte, dringend. Aber das zog doch immer etwas Negatives nach sich, nicht wahr? Ich zumindest hätte eine ganz andere Wortwahl gewählt, wenn es mir darum ging, eine positive Nachricht zu vermitteln.

Die braune Wanduhr und ihre Zeiger symbolisierten uns, dass die Unterrichtsstunde in wenigen Minuten wieder enden würde. Erst am späten Nachmittag müsste ich mich wieder in der Schule einfinden, denn dann hatte ich eine Doppelstunde Sport. Die Freistunden nutzte ich eigentlich immer recht sinnvoll. Entweder las ich, hörte Musik, entspannte für eine Weile, oder schlief. Schließlich waren es kostbare Stunden, die nicht vergeudet werden wollten und die ich immer bis zur letzten Sekunde auskostete. Und ich war immer pünktlich.

Gut – zumindest fast immer, man stolperte zufällig über den Erinnerungsschnipsel vom letzten Tag als Junior, aber der schien so lang in der Vergangenheit zu liegen, dass ich gar nicht glauben konnte, dass nur drei Monate und eine ganze Woche dazwischenlagen. Es fühlte sich viel mehr danach an, als wäre schon ein ganzes Jahr vergangen.

Hätte man mir gesagt, dass sich mein Leben in dreizehn Wochen um nahezu einhundertachtzig Grad wenden würde – ich hätte demjenigen oder derjenigen wohl sicher erzählt gehabt, dass er oder sie jemand anderen auf den Arm nehmen konnte. Aber nicht mich. Diesen Sommer war gefüllt von unglaublichen Momenten, die mich bis auf's Mark geprägt hatten, und für die ich mehr als nur dankbar gewesen war.

Hast du vielleicht eine Freistunde? Heute Abend ist schlecht, brachte ich mit krackeliger Schrift zusammen und faltete den Zettel wieder klein, schob ihn herüber zu June, die sofort verstand, dass der Zettel nicht an sie adressiert war und erhob mich zum rechten Zeitpunkt von meinem Platz, da die Sekunde darauf die Klingel läutete.

»Besorgt die Lektüre bitte bis Freitag und lest die ersten zehn Seiten, das sollte ja wohl machbar sein«, verkündete Mrs Roberts, legte das Stück Kreide zur Seite und setzte sich ans Lehrerpult, während die Schüler schon am ersten Schultag so aussahen, als wären wir schon wieder mitten im Schuljahr angekommen: abgehetzt und nicht vorbereitet auf das, was uns bevorstand.

LAST SUMMERWo Geschichten leben. Entdecke jetzt