Tränen über Tränen

2.3K 178 8
                                    

Wann war ich eine solche Heulsuse geworden? Die Schultern, die zuvor noch runter gefallen waren, zogen sich hoch und meine Lippen pressten sich aufeinander. Tränen sammelten sich in meinen Augen. Normalerweise hätte ich mich gefreut, aber in diesem Moment war ich so unglaublich enttäuscht, nicht die Person dort im Hausflur stehen zu sehen, die ich mir erhofft hatte.

„Ist es so schrecklich, dass ich nach Hause komme?" Die schlanke Frau mit den langen dunklen Haaren hängte ihre Jacke an den Haken. Die helle Strähne, die sich vorn im Scheitel nach links und rechts teilte, sah wie immer wunderschön an ihr aus. Ich war der Lady wie aus dem Gesicht geschnitten. Wir sahen uns so unglaublich ähnlich, dass es fast gruselig war. „Hey, Schatz, wieso weinst du denn?" Sie kam mit ausgebreiteten Armen auf mich zu.

Ich schlang die meine fest um sie, schluchzte auf. Das erste Mal, seit dem Tag des Streits, weinte ich. Maria strich mir sanft über den Rücken. Ich sah sie so selten, dass ich mich eigentlich immer unglaublich freute, wenn sie zu uns nach Hause kam. Sie arbeitete im Ausland und kam nur, wenn sie Urlaub hatte. Der Weg war für ein Wochenende einfach zu weit.

„Ich hab dich auch vermisst, aber kein Grund zu weinen, Ben", sagte sie sanft und löste sich leicht von mir, um mein Gesicht in ihre Hände zu nehmen.

Ich blickte zu ihr hinab, schüttelte leicht den Kopf. Meine Hände legten sich auf die ihre und ich lehnte meine Stirn an ihre. Wir hatten schon immer ein sehr inniges Verhältnis zueinander, was aber weniger eines war wie zwischen Mutter und Sohn. Sie war sehr jung schwanger geworden und ich war nicht geplant gewesen. Sie war nicht bereit gewesen, eine Mama zu sein, also war von Anfang an Nana meine Erziehungsberechtigte und Bezugsperson. Meine Mutter hingegen war mehr eine große Schwester gewesen. Ich nahm es ihr keineswegs übel, dass sie Lily wie ihre Tochter behandelte, während ich mehr ihr kleiner Bruder war, denn ich liebte sie trotzdem unendlich und ich wusste, dass es auf Gegenseitigkeit beruhte. Sie war sowas wie meine Seelenverwandte und hatte immer das Talent gehabt, heim zu kommen, wenn ich sie am meisten brauchte. Sogar, wenn es mir selbst gar nicht bewusst war.

Ich kuschelte mich tiefer in die Ecke der Couch, die in Marias Zimmer stand und löffelte schniefend mein Lieblingseis.

„So, Ben... Was liegt dir auf dem Herzen, hm?" Sie ließ sich zu mir auf die Polster sinken und hob meine Beine auf ihren Schoß, ehe sie eine Decke über uns warf.

„Die ganze Welt liegt auf der Hälfte, die übrig geblieben ist..." Ich schniefte erneut und schob mir einen vollen Löffel in den Mund.

„Liebeskummer...?" Sie machte sich über ihre eigene Eisschüssel her.

Allein das Wort ‚Liebe' sorgte dafür, dass ich wieder losheulen wollte. Aber ich riss mich zusammen und erzählte ihr von meiner Situation. Es tat so schrecklich weh und ich fühlte mich noch viel schrecklicher, je mehr ich darüber nachdachte, wie sehr ich Eduard verletzt hatte. „Und... es ist ein Junge", schob ich flüsternd am Ende meiner Schilderung hinterher.

Maria streichelte über die Decke, die meine Beine bedeckte. „Wie heißt er denn?", fragte sie sanft. Allein die Frage reichte, um mir klar zu machen, dass es für sie völlig okay war, dass ich einen Jungen liebte. Denn würde es nicht okay sein, würde sie nicht seinen Namen wissen wollen.

„Eduard..." Ich wischte mir über das Gesicht.

„Und wie ist er so?"

„Eddie... ist der tollste Mensch, den ich kenne." Ich legte meinen Kopf in den Nacken und sah an die Zimmerdecke. „Er ist unglaublich schlau und redet oft über Dinge, die ich nicht einmal ansatzweise verstehe. Unglaublich süß und die wunderschönste Person, die ich je gesehen hab. Innerlich wie äußerlich. Witzig. Er hat sich auf Anhieb mit Lily und Nana verstanden und kochen kann er fantastisch. Ich... kann gar nicht richtig beschreiben, was da in mir vorgeht, wenn ich auch nur an ihn denke, weißt du? Er macht mich verrückt und so nervös und trotzdem fühl ich mich so unendlich wohl bei ihm, dass ich mich völlig fallen lassen kann. Er nimmt mich wie ich bin und hat den Mut mir zu sagen, wenn ihn etwas stört. Aber ich hab ihm nicht zugehört. Ich hab dafür gesorgt, dass er sich bei mir eben nicht mehr wohl fühlt." Ich schloss die Augen und holte etwas stockend Luft. „Ich hab ihm das Gefühl gegeben, seine Zeit und seine Gefühle an mich verschwendet zu haben. Als er das gesagt hat, ist wohl alles in mir zusammengebrochen. Wahrscheinlich war mir vorher noch immer nicht ganz klar gewesen, wie sehr ich ihm wehgetan hab, mit meinem Verhalten." Ich schluchzte auf. Es kam alles aus mir herausgesprudelt.

„Komm her..." Die Frau breitete ihren Arm aus.

Ich stellte meine Schüssel weg und kuschelte mich an ihre Seite. „Ich hab das Gefühl, zu ersticken. Einerseits tut es so schrecklich weh und andererseits ist alles betäubt. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen, ich denke die ganze Zeit an ihn und an seine Worte und daran, wie sehr ich ihn vermisse. Ich will mich entschuldigen. Für alles. Aber ich finde keine Worte, die seiner würdig erscheinen." Immer wieder brach meine Stimme. Mein Hals tat weh vom Schluchzen. „Und ich hab so schrecklich Angst, was passieren kann, wenn ich doch mit ihm rede. Was ist, wenn er mir nicht verzeihen kann? Und was ist, wenn er es tut? Krieg ich es gebacken oder läuft es genauso, weil ich trotzdem ein Feigling bin und nicht zu der Beziehung stehen kann. Zu ihm stehen. Dabei würde ich am liebsten in die Welt hinaus brüllen, wie sehr ich in ihn verliebt bin. Ich hab die Zeit mit ihm so sehr genossen. Das kann doch nicht einfach vorbei sein, wegen eines Fehlers. Ich weiß, es war ein riesiger Fehler. Aber es fühlt sich an, als müsse ich sterben, wenn ich nicht zu ihm zurück kann. Wie soll ein Mensch mit nur einen halben Herzen leben, das aber so sehr blutet, dass es das Blut nicht mehr durch den Körper pumpen kann?"

„Sshhh..." Meine Mutter strich mir durchs Haar. „Hol mal Luft..."

Ich weinte bitterlich. Es wäre so viel einfacher, wenn es mir einfach egal wäre. Wenn mir die Beziehung zu diesem Jungen egal wäre. Seine Gefühle. Meine Gefühle. Ob er mir verziehen würde oder nicht. Es wäre so viel leichter, wenn ich mich nie in ihn verliebt hätte. Aber es hatte sich immer so schön angefühlt mit ihm. Wie also könnte es mir egal sein?

Losers [boyxboy]Where stories live. Discover now