Schmerz

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Newt P.o.V

Der Morgen war angebrochen. "Mann, unglaublich, dass du noch am Leben bist. Ich dachte, wir hätten dich verloren.", sagte Minho, als wir zusammen vor der Sanihütte darauf warteten, dass Lucy wach wurde. "Ja, aber ohne Luce hätte ich das nie geschafft."
"Was ist sie jetzt eigentlich genau?", fragte sich Gally nachdenklich. "Keine Ahnung. Sie hat mir nur erzählt, dass sie sich erinnern kann und ein ziemlich verrücktes Leben hatte." Ungläubiges Staunen. "Sie kann sich erinnern? WCKD muss sich doch um ihre Erinnerungen gekümmert haben. "Naja, nicht so richtig. Sie war nie da draußen und nie bei Wicked."
Wir saßen einfach nur da und redeten, was sich nach der Schlacht unglaublich gut anfühlte.

"Hey Leute, habt ihr mich vermisst?", sagte auf einmal Lucys Stimme hinter mir. "Hey Luce, wie geht's dir?", fragten Gally und Minho fast gleichzeitig. "Eigentlich ganz gut. Mir ist noch ein bisschen schwindelig, aber ansonsten geht's mir gut. Was ist mit unserer lebendigen Leiche hier?" Sie riss Witze und unterhielt sich mit den anderen, als ob nie etwas gewesen wäre. "Wie viele sind gestorben?", fragte Lucy plötzlich. Stille senkte sich über die Gruppe. "Es hat Jackson, Justin, Alfred und Stephen erwischt." Beschämt schlug Lucy die Augen nieder. "Wie können wir sie ehren?"

An diesem Tag bauten wir kleine Kreuze aus Holz, gravierten mit Gallys Hilfe die Namen ein und suchten nach einem geeigneten Platz im Wald. Dafür hatten wir uns in Zweiergruppen aufgeteilt. Zusammen mit Lucy streifte ich durch den Wald. "Hey, wie wäre es da?", fragte sie. Es war eine kleine Lichtung, deren Boden vom Laub des Herbstes bedeckt war. Wir riefen die anderen zusammen und fingen an, die Gruben für die Körper auszuheben. "Uff, ich hätte nicht gedacht, dass Gartenarbeit so anstrengend sein kann.", keuchte Minho. Ich lachte nur leise und grub tiefer runter.

Der Auftrag erstreckte sich über den ganzen Tag, und wir waren immer noch betrübt über den Verlust. "Leute? Wir sollten zu der Wand gehen und die Namen durchstreichen.", meinte Minho bedrückt beim Abendessen. "Wollen wir den nächsten Lichtern überhaupt davon erzählen?" Überrascht sah ich Alby an. Er hatte sich den Tag über bemerkenswert zurückgehalten. "Ich weiß nicht." Die anderen zuckten ebenfalls die Schultern und aßen weiter.

"Luce, darf ich dich was fragen?", sagte ich, als Lucy und ich auf dem Weg zur Namenwand waren, um die Namen durchzustreichen. Wir hatten uns freiwillig dafür gemeldet, da die anderen zu kaputt waren und nur noch schlafen gehen wollten. "Ja, klar.", erwiderte sie, ohne zu zögern. "Was wirst du jetzt machen? Musst du wieder zu deinem Bruder zurück?" Diese Frage hatte mich schon lange beschäftigt, doch es war nie der richtige Zeitpunkt dafür. "Oh..." Lucy senkte den Kopf. "Weißt du, es war eigentlich ursprünglich nur ein Auftrag, um meine Gefühle zurückzuholen. Jetzt bedeutet mir diese Lichtung alles. Aber ich fürchte, ich werde wieder zurück müssen. Ich weiß nur nicht, wann." Ich schwieg. "Ihr bedeutet mir alles. Ich will nicht zurück, nie." Also könnte es sein, dass ich sie nicht wieder sehen würde?

Der Vollmond beschien die Wand, in die die Namen jedes Lichters geritzt worden waren. Wir begannen bereits, die Namen mit einem Messer durchzustreichen. Gedankenverloren strich Lucy über ihren Namen, den sie direkt neben meinen gesetzt hatte. "Versprichst du mir, dass nur du meinen Namen durchstreichst, sobald ich weg bin?"
"Ja..." Meine Stimme war schwächer als ich gedacht hatte. Stur heftete ich den Blick auf Justins Namen, durch den ich gerade einen Strich zog. Auf einmal spürte ich Lucys Hände an meinem Nacken, die mich sanft herunterzogen.

Im nächsten Moment fand ich mich in einem Kuss wieder. In diesem Augenblick konnte ich mir gar nicht vorstellen, dass sie irgendwann einfach weg wäre. Wie hatten wir überhaupt vor ihr auf der Lichtung überlebt? Das alles rückte während des Kusses in weite Ferne. "Ich liebe dich.", flüsterte Lucy leise. "Ich dich auch."
Diese Nacht war die glücklichste, aber sowohl die traurigste meines ganzen Lebens.

Die Lichtung wusste nichts von Lucys baldigem Abschied. Naja, sie wusste auch selbst nicht, wann es soweit war, aber seit sie alles hatte, was sie sich erhofft hatte, konnte es nicht mehr lange dauern. Wie sollte ich ohne sie überleben? Ich blieb den ganzen Tag an ihrer Seite, und ließ sie nicht aus den Augen. Wir hatten das Übereinkommen getroffen, dass wir ihre letzten Tage hier gemeinsam verbringen würden. Es fühlte sich irrsinnig vertraut an, zusammen im Gemüsebeet zu arbeiten, sogar gemeinsam zu lachen.

Wer hätte geahnt, dass man sich nur eine Sekunde lang umdrehen musste, um etwas unglaublich Wichtiges zu verlieren. "Ähm, Newt?", sagte plötzlich Lucys zittrige Stimme hinter mir. "Ja?" Meine Prinzessin stand einfach nur da und starrte ungläubig auf ihre Hand, die sich in Sand auflöste. Er rieselte auf den Boden und ließ nur ein kleines Häufchen zurück. Es fraß sich Lucys Arm hinauf.
Nun sah sie so zerbrechlich aus, als ob sie gleich vom Wind davongeweht werden konnte. "Hey, Luce. Du wirst nicht gehen, ich verspreche es dir." Unsagbare Trauer lag in ihren Augen, doch sie schüttelte den Kopf. "Ich muss gehen." Ich fühlte mich so, als ob jemand mein Leben brutal mit einem Hammer zerschlagen würde.

Die Lichter hatten sich um uns versammelt und beobachteten das Geschehen. Doch ich beachtete sie gar nicht, denn meine ganze Aufmerksamkeit drehte sich um Lucy. Nach einigen Sekunden war schon ein Großteil ihres Körpers verschwunden. Ich zog sie in meine Arme. "Wenn... wenn ihr lebendig raus wollt, rennt um euer Leben." Ich verstand nicht, was sie meinte. Fragend sah ich ihr ins Gesicht. "Du wirst es verstehen." Ein kleines, tapferes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. "Wir sehen uns auf der anderen Seite." An die anderen gewandt rief sie: "Ich werde euch vermissen! Ich würde jetzt gerne winken, aber ich habe leider keine Hände mehr!" Tränen strömten meine Wangen hinab. Sie gab mir noch einen letzten Kuss, bevor auch ihr Gesicht zerfiel und der Sand in meinen Händen landete.

Ungläubig starrte ich auf sie, und konnte nicht begreifen, dass sie einfach nicht mehr da war. Ich fiel auf die Knie. Auf dem Sandhaufen, der einmal Lucy gewesen war, lag eine Feder. Zart und pechschwarzen mit einer Waldgrünen Spitze. Bevor irgendjemand anderes sie entdeckte, nahm ich sie an mich. In Gedanken schwor ich mir, dass ich diese Feder von nun an jede Sekunde meines Lebens bei mir tragen würde, bis ich sie wiedersehe.

Lucy Jackson- The Girl with Memories Where stories live. Discover now