Kapitel 27

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„Dich leiden zu sehen, mit deinen Gedanken war schlimmer als die Diagnose selbst...", wiederholt er seine Worte.
„Als du ins Krankenhaus musstest wurde mir erstmal so richtig bewusst wie real das Ganze ist...", lasse ich den Kopf fallen und versuche nicht der Vergangenheit zu verfallen.
„Bis zu diesem Tag fühlte es sich an wie ein böser Traum...", fahre ich mit hängenden Kopf meine Worte fort.
Als ich ganz kurz aufschaue sehe ich im Blickwinkel den Gesichtsausdruck meines Vaters. Für eine Millisekunde wird mir wieder bewusst vor dreißig Jahren war er ein fremder Mann, der mich auf der Straße gefunden hat, aufgenommen hat und mir ein Leben schenkte. Er und seine Freundin... ich lies die beiden schneller an mich ran als ich es bei jedem anderen Menschen nie getan hätte, ich lies sie so weit an mich ran das ich anfing die beiden Mum und Dad zu nennen. Das sieben jährige Mädchen in mir welches schluchzend und ängstlich in dieser dunkeln, nassen Gasse Berlins sitzt, an ihren Teddybären gedrückt, steckt nach all den Jahren immer noch in mir. Dieses Mädchen ohne Familie, ohne Liebe hätte nie gedacht das sie zwei Menschen so nah an sich lassen würde. Aber ich tat es... ich lies sie an mich ran. Als mein Vater entschied Mum gehen zu lassen, zu erlösen... verlor ich einen Teil von mir selbst, sie war meine Bezugsperson, sie war die Frau die mir gezeigt hat das die Welt nicht grau ist. Nach dem Tot meiner Mutter wurde sie wieder grau und Dad zeigte mir das die Welt immer noch farbig ist, seit seiner Diagnose, seit ich an diesem Bett sitze Tag für Tag wird meine Welt wieder dunkler und grauer. Es ist ein Jahr vergangen und ich weiß genau das es sich dem Ende nähert. Ich werde eine Frau sein die ihre leibliche Mutter nicht kennt und ihren leiblichen Vater verachtet, ich werde eine Frau sein die mit fünfzehn Jahren wieder erlernte was es heißt zu leiden, das Teenager Mädchen welches sich nicht von ihrer Mutter verabschiedet hatte und es bis heute bereut, ich werde eine Frau sein die ihren Vater verliert und sich ein besseres Gewissen einreden will das alles besser wird. Hell Wellenbrink... geborene Helena Hendson, adoptiert von Nico Santos, mit Bürgerlichen Namen Wellenbrink und seiner Liebsten Aileen, dieses Mädchen, diese Frau bin ich. Sobald mein Vater seine Augen schließen wird, den letzten Atemzug nimmt, werde ich keine Eltern mehr haben.
„Wie sehr spürst du das Ende...?", frage ich mit zusammengekniffenen Augen und Presse meine Lippen aufeinander.
„Hell... ich spüre es seit meinem ersten Tag...", antwortet er und ich erhebe meinen Kopf, er würdigt mir keinen Blick.
„Seit du mich das erste mal besucht hast... seit einem Jahr...", erklärt er es genauer und schenkt mir immer noch keinen Blickkontakt.
Und da ist der Punkt, ich breche zusammen. Ich falle zurück in die Erinnerung, an den Tag meines ersten Besuches. Der Tag an dem ich das erste mal durch die Krankenhaus Gänge gelaufen bin, das erste mal durch die Zimmertüre mit der Nummer 211 und das erste mal auf diesem Stuhl saß. Der Tag an dem mir bewusst wurde das alles hier um mich rum real ist, das mein Leben ist. Der Tag an dem ich das erste mal sagte >>Ich hasse mich dafür, das ich zwei Menschen an mich ran lies als ich sieben Jahre alt war...<<. Dieser eine Tag veränderte mein Leben.
„Wieso versteht man erst wie wichtig dir jemand ist wenn es eigentlich zu spät ist?...", dreht mein Vater seinen Kopf wieder zu mir und schaut mir in die Augen.
„Schon als ich dich auf der Straße sah, als ich in deine ängstlichen braunen Augen sah, ich wollte das in diesen Augen man keinen Schmerz sieht sondern Lebensfreude, ich war die Person der du dich anvertraut hast, mich hattest du an dich ran gelassen, schon als ich das erste mal in diese Augen sah erkannte ich, dieses Mädchen ist meine Tochter und ich werde alles tun das man in ihren Augen nie wieder Schmerz sehen muss, das alles wurde mir letztes Jahr bewusst und Tag für Tag, je näher ich das Ende spürte wurde mir klar... wie wichtig du mir von Anfang an warst, wie sehr ich dich als meine Tochter sehe... wieso wurde mir das erst klar als ich die Diagnose, Lungenkrebs im letzten Stadium bekommen hab...", sehe ich in seinen braunen Augen dieses schuldbewusste.
Seine Worte bohren sich in mein Gehirn und durchbrechen meine Gedanken, nun herrscht das reinste Chaos. Er hat recht. Vor einem Jahr, wurde mir das selbe bewusst als ich das erste mal sehen musste wie er versucht zu überleben. Er hätte diese Worte nicht sagen dürfen... ich hätte diese Worte ignorieren sollen..., dieser Mann hätte mir nie so wichtig werden dürfen... den nun, spüre wie ich falle, wie ich in die bittere Vergangenheit falle.

Adoptierte Wellenbrink Where stories live. Discover now