Kapitel 1

352 9 4
                                    

Ein Monster. Eine Jagd. Ein Rätsel, dass es zu lösen galt und ihr den letzten Verstand geraubt hatte. Eine Umarmung, die überraschend warm und tröstend gewesen war. Ein Kuss, der im Chaos endete und letztlich ein Junge, für den sie ihr Leben gegeben hätte. Die Narbe an ihrer linken Schulter schmerzte noch immer und erinnerte sie daran, was sie getan und vor allem, was sie nicht getan hatte. Sie hatte sich nie bei ihm entschuldigt. Die Gedanken rasten nur so durch ihren Kopf. Die Bilder waren immer dieselben, doch das Gefühl hatte sich verändert.

Einige Wochen nach Crackstones Auferstehung und seinem Angriff auf Nevermore waren vergangen. Wednesday ging auffällig nervös in ihrem Zimmer auf und ab, während Lurch mit großen, fragenden Augen in der Tür stand und auf seine nächste Aufgabe wartete. Auch wenn er kaum sprach und wenn dann nur unverständliche Laute von sich gab, konnte man ihm ansehen, dass er von ihrem untypischen Verhalten mehr als überrascht war. Sein Körper war zwar steif, aber seine Augen folgten aufgeregt ihren schnellen, kleinen Füßen.

Mit einer Hand an ihrer Schulter, die in den letzten Tagen ungewöhnlich mehr schmerzte als sonst, raste sie durch ihr Zimmer.

„Ich verliere nie etwas.“, sprach sie mit sich selbst in einem Ton, der sonst nur für ihre ärgsten Feinde bestimmt gewesen war.

Ihre Augen suchten verzweifelt in jeder Ecke ihres Zimmers. Ein großer, dunkler Raum. Ihr riesiges Bett mit schwarzen Vorhängen, das aus einer anderen Zeit zu stammen schien, stand genau in der Mitte. Ringsherum zierten einige Bücherregale die Wand, ab und an war ein Lücke, in der ein Bild mit prunkvollem Rahmen hing. Da waren Bilder von Insekten und Käfern, Spinnen und Schlangen, Bilder ihrer Idole wie Mary Shelley oder auch Machiavelli.

Plötzlich blieb sie stehen. Sie bückte sich zu ihrem Bett hinunter und öffnete eine Schublade an der Unterseite. Inspizierend betrachtete sie alles, was in der kleinen Holzkiste zu sehen war. Leise sprach sie mit sich selbst: „Es muss hier sein...“ Ihre Augenbrauen waren ernst zusammengezogen. Da waren Zettel mit Skizzen, Notizen für ihr nächstes Buch, Stifte, ein Skalpell, eine alte Taschenuhr mit ihren Initialen und viele andere Kleinigkeiten, die nicht für die Augen anderer bestimmt waren. Ihr Blick fiel auf ein ausgeblichenes Foto. Ein Foto, welches sie in den vergangenen Wochen oft in ihren Händen gehalten und betrachtet hatte. Sie nahm es heraus und musterte es. Ihre kleines, schwarzes Herz, das so aufgeregt pochte, schlug nun noch schneller.

Auf dem Foto waren viele, dunkle Gestalten aufgereiht. Da waren ihre Eltern. Ihr Vater mit einer Hand auf der Schulter seiner Frau. Ihre Mutter mit dem kleinen, viel zu dicken Pugsley auf dem Arm. Lurch mit toten Augen, Onkel Fester mit aufgerissenem Mund und viele andere Bekannte, Verwandte und Freunde der Familie waren versammelt. Links stand sie selbst mit verschränkten Armen und ernstem Blick. Sie trug ein schwarzes Kleid und einen dunkelgrauen Mantel. Neben ihr ein Junge in ihrem Alter mit blonden, strohigen Haaren und großen, grünen Augen. Er trug ein weißes Hemd mit Krawatte und eine schwarze, viel zu kurze Jacke. Eine Beerdigung schien für diesen Jungen kein Grund gewesen zu sein, nicht zu lachen. Sein Grinsen war breit, nahezu wahnsinnig.

Wednesday blinzelte und erinnerte sich daran, was passiert war. Onkel Fester hatte sich bei dieser Beerdigung einen Spaß erlaubt, dachte sie zurück. Als das Foto geschossen wurde, hatte er laut geschrien. So laut, dass es selbst die Toten gehört haben mussten. Xavier hatte sich nicht mehr beherrschen können und hatte lachend neben ihr gezittert. Das Foto, welches sie direkt nach ihrer Ankunft aus Nevermore heimlich in den Familienarchiven herausgesucht und mitgenommen hatte, lag seitdem in dieser Schublade. Jede Nacht hatte sie es herausgenommen und betrachtet. Warum, wusste sie nicht.

Weil er glücklich aussieht...?

Schoss es durch ihren Kopf. Sie schüttelte den Gedanken fort und blickte zurück auf ihren dicklichen, runden Bruder und riss ihre Augen auf:

„Puuuuuugsleeeeyyyyy!!!!“, schrie sie los.

Lurch zuckte zusammen und ließ beinahe ihr Cello fallen, welches er gerade forttragen wollte. Wednesday schob das Foto in ihre Jackentasche und eilte aus dem Zimmer.

„Pugsley!!! Gib mir mein Telefon!!!“, schrie sie erneut und rannte die Treppe hinab. Man konnte es im ganzen Haus poltern hören. Es klang, als würde ein Geist verrückt spielen.

„Mutter, wo ist Pugsley?“ stürmte sie energisch in den Salon. Morticia Addams saß mit einer Tasse schwarzen Kaffee auf einem mit Samt bezogenen, kleinen Sofa und wandte sich fragend zu ihrer Tochter:

„Schatz, was ist denn?“ sprach sie sanft und gutmütig. „Pugsley hat schon wieder mein Telefon geklaut und verdient eine Strafe. Darum werde ich mich natürlich selbst kümmern, wenn du nur so freundlich wärst und mir sagen könntest, wo er ist!?“, sprudelte es nur aus ihr heraus. Morticia stellte die Tasse ruhig auf den Tisch und grinste ihrer Tochter ins Gesicht: „Dieses Telefon scheint ja doch sehr wichtig und kostbar für dich zu sein oder etwa nicht?“, fragte sie mit einem Augenzwinkern. „Dieses Telefon ist mein Eigentum. Auch wenn ich diese neue Technik aufs tiefste verfluche, war es dennoch ein Geschenk und es wäre eine Schande, wenn ich mich nicht gut darum kümmern würde, habt ihr mir doch immer eingetrichtert, dass man auf sein Hab und Gut Acht geben muss, sei es ein Mensch, ein Gegenstand oder Geld.“ Ihr sonst so blasses Gesicht bekam nun immer mehr einen rötlichen Schimmer vor Wut, aber auch vor Scham, da ihre Mutter den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Dieses Telefon war ihr sehr wichtig, nur sollte das niemand jemals erfahren.

Während Wednesday sprach, schlenderte Pugsley ins Zimmer und war schon fast voller Vorfreude, als er hörte, dass ihm eine Strafe bevorstand. Schließlich mochte er nichts lieber, als von seiner Schwester gefoltert zu werden. Als sie ihn erblickte, sah sie, dass er das Telefon fest in seiner rechten Hand hielt. Sie sprang auf ihn zu und schnappte es sich. Mit starren Augen durchbohrte sie ihn: „Was hast du gemacht?“

Pugsley, der schon länger resistent war gegen Wednesday´s angsteinflößende Blicke, schüttelte nur den Kopf: „Keine Sorge, auch dieses Mal habe ich es nicht knacken können.“ Er winkte nur ab und drehte sich um. Doch bevor er verschwinden konnte, packte Wednesday seine Schulter und zerrte ihn zu sich: „Niemand wird jemals dieses Passwort knacken können und wenn ich dich noch einmal damit sehe, ist die nächste Guillotine über deinem Kopf scharf!“ Mürrisch zog sie ihn am Arm hinter sich her. Die fürchterlichsten Foltermethoden wirbelten durch ihre Gedanken. Doch Gomez Addams kam eilig in den Salon und rief ihnen hinterher: „Wednesday, meine kleine Todesfalle, auch wenn ich dich nur ungern bei deinem Vorhaben störe, doch Lurch hat das Auto nun vollständig beladen... er steht wie versteinert im Vorgarten und wartet auf dich.“

Die Geschwister blieben ruckartig stehen. Beide mit einem traurig verzogenen Mund. Und dann kam es ihr wieder in den Sinn. Heute war der Tag, an dem sie nach Nevermore zurückkehren würde. Sie würde diese Schule betreten, den Schulhof, dieses Zimmer mit diesem wunderschönen Fenster. Sie würde zurückgehen nach Jericho, dem Ort, der ihr so viel Leid für sie bedeutete, aber dennoch auch so viel mehr. Sie würde Enid wiedersehen, Eugene und auch ihn. Xavier. Sie ließ Pugsley´s Arm ruckartig los und nickte zustimmend ihrem Vater zu. Ohne ein weiteres Wort verließ sie den Salon. Ihre Eltern und ihren Bruder ließ sie mit offen Mündern und fragenden Augen einfach zurück.

Noch nie hatte sie Pugsley einfach so davonkommen lassen. Noch nie hatte sie einfach so nachgegeben. Ihre Mutter blickte sanft in die Augen ihres Mannes und nickte ihm zu. Beide wussten, Nevermore war zwar ein gefährlicher Ort, doch sie wussten auch, dass Wednesday dort endlich das finden würde, wonach sie sich ihr ganzes, kurzes Leben lang gesehnt hatte. Tiefe Freundschaft und mit ein wenig Glück und Hoffnung auch Liebe. Da waren sich ihre Eltern einig. Nevermore war so viel mehr als eine Schule.

Woe is me, my loveWhere stories live. Discover now