Kapitel 8

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Xavier hatte sie den ganzen restlichen Vormittag nicht mehr gesehen. In keinem seiner Kurse war sie erschienen. Es machte ihn beinahe wahnsinnig. Er sah immer wieder auf sein Smartphone, hatte mehrere Male Nachrichten an sie eingetippt, nur um sie dann wieder zu löschen. Um sich irgendwie zu beruhigen, redete er sich ein, dass sie einfach keinen Unterricht zusammen haben, dass nichts weiter passiert war, dass es ihr gut geht. Es war nur ein schwacher Trost. Er war sich sicher, irgendetwas beschäftigte sie. Irgendetwas stimmte nicht.

Er verbrachte die Mittagspause mit Ajax, der ihm so sehr mit Fragen auf die Nerven ging, dass er die ganze Zeit über Musik hörte, um ihn auszublenden. Danach machten sich beide auf den Weg zur nächsten Einheit - Pflanzenkunde. Das imposante Gewächshaus beeindruckte ihn immer wieder aufs Neue. Er hatte ganz vergessen, wie groß und wunderschön es war. Ajax erblickte Enid, die bereits an einem Tisch saß und machte es sich direkt neben ihr gemütlich. Sie begrüßte ihn mit einem breiten Grinsen. Als Wednesday nirgends zu sehen war, hielt Xavier inne und ließ lediglich seinen Blick schweifen. Er beschloss, sich nach der Stunde sofort auf die Suche nach ihr zu machen.

Er setzte sich an einen leeren Tisch, verschränkte die Arme, legte seinen müden Kopf ab und starrte hinaus durch die riesigen Scheiben. Kurz bevor Mrs. Ashton hereinkam, die nicht nur Mrs. Thornhills Platz als Wohnheim-Mutter übernommen hatte, sondern auch nun die neue Lehrerin für Botanische Wissenschaften war, kam Wednesday herein, direkt hinter ihr eine weitere Schülerin.

Wednesday zuckte zusammen, als sie ihn erblickte. Sie war so fokussiert auf Xavier, dass sie gar nicht bemerkte, wer da mit ihr den Raum betreten hatte. Es war das blonde Mädchen, welches sich hinter der Säule versteckt und sie und Ajax beobachtet hatte. Bevor sie verstand, was passierte, drängelte sich das Mädchen an Wednesday vorbei und wählte den Platz neben Xavier. Er erschrak für einen kurzen Moment und drehte sich dann herum. Erleichtert sah er sie, Wednesday, die nur versteinert und mit einem finsteren Blick im Gang zwischen den Bänken stand. Er wollte aufstehen, zu ihr gehen, mit ihr sprechen, doch Mrs. Ashton kam herein und rief alle dazu auf, sich zu setzen. Auch Enid bemerkte Wednesday, stand auf, nur um dann direkt wieder von Mrs. Ashton auf ihren Platz verwiesen zu werden. „Setzt euch, wir sind schon viel zu spät dran!", schrie sie beinahe.

Allen wurde mit einem Mal klar, diese Lehrerin war weitaus strenger als Mrs. Thornhill, sicherlich nicht so brutal und hinterhältig, aber strenger. Wednesday setzte sich nahezu ferngesteuert in die letzte Reihe. Ihr Blick starr. Einsamkeit war kein Problem für sie. Sie genoss es, im Unterricht allein zu sein. Doch dieses Mal war es die Hölle und zwar ganz und gar nicht auf die gute Art. Diese Hölle war abscheulich und unerträglich, schoss es durch ihre Gedanken, als sie die blonde Schönheit neben Xavier sitzen sah. Direkt eine Reihe weiter vorn.

Mrs. Ashton war dabei, einige Pflanzen auf dem Tresen hin- und herzuschieben, Bücher zu holen und andere Utensilien für die Stunde. Xavier drehte sich immer wieder zu Wednesday um, wollte ihr zu verstehen geben, dass es ihm leidtut, bis seine Banknachbarin genervt das Wort ergriff: „Hi, ich bin Jolene Moody und du bist?" Sie streckte ihre Rechte zu ihm hin, um ihm die Hand zu geben. Sie strahlte ihn mit riesigen, blauen Augen an. Xavier ignorierte ihre Hand und räusperte sich, überrascht darüber, dass sie sich so offiziell bei ihm vorstellte: „Ich bin Xavier Thorpe. Hallo." Er hielt seine Antwort kurz und knapp. Er wollte es ungern noch schlimmer machen, unfreundlich wollte er aber auch nicht sein.

Wednesday behielt sie die ganze Zeit im Auge. Sie starrte auf die Hand, die Jolene ihm geben wollte.

Wenn er sie nimmt, dann ...

In diesem Moment gab es für Wednesday kein schlimmeres Szenario. Ein bildschönes Mädchen mit Blonden langen Locken, eisblauen Augen, heller Haut und einem perfekten Lächeln wollte ihm die Hand geben. Ihm, den sie selbst noch berührt hatte. Wednesday stellte fest, dass sie Xavier noch nie die Hand gegeben oder auf irgendeine andere Art berührt hatte. Sie wusste auch, warum. Aus Angst vor einer Vision oder weil sie einfach nicht für Berührungen oder Umarmungen geschaffen war. Doch in dieser Sekunde musste sie einfach daran denken, sie hatte ihn noch nie berührt. Sie schluckte dieses bittere Gefühl hinunter und fühlte sich, als müsste sie sich übergeben. Ihre Nerven in ihrem Körper schienen unter Hochspannung, ihre Knie zuckten auf und nieder. Sie schlug ihr Buch auf und begann zu lesen, nur um dieses grausame Spektakel nicht mehr länger ansehen zu müssen.

Woe is me, my loveWhere stories live. Discover now