Kapitel 26

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Es regnete. Wednesday hatte ihren Schirm vergessen. Sie stand draußen vor dem geschwungenen Tor der Schule und wartete. Die großen Tropfen liefen nur so über ihren Kopf, ihre Stirn und ihre Finger. In ihren Händen hielt sie ihr Telefon, welches mittlerweile zu einem treuen und permanenten Begleiter geworden war. Schnell hatte sie Xavier noch geschrieben, dass er einen Schirm mitbringen soll und dann erreichte sie auch schon die neue Nachricht des Stalkers. Auch er war mittlerweile ein nicht unvermeidbarer Teil ihres Lebens geworden. Beinahe täglich bekam sie neue Bilder, Texte oder GIFS von ihm geschickt.

So wie es aussieht, wird es langsam ernst…

Würde es nicht um Xavier gehen, würde sie sogar etwas Gefallen finden an diesem Katz und Maus Spiel. Doch das kleine, sich bewegende Bild, dass er ihr geschickt hatte, ließ sie erstarren. Wieder war es eine Figur, die aussah wie Xavier. Eine Kugel aus dem Nichts trifft ihn direkt in der Mitte und er fällt, so wie sie es in ihrer Vision gesehen hatte. Sie wischte mit ihrem Ärmel nochmal kurz über das dunkle Display und versteckte das Smartphone schnell wieder in ihrer Jacke. Sie blickte nach oben, spürte sie doch augenblicklich, wie sich ein Schatten über sie legte und der Regen mit einem Mal verschwunden war. Xavier stand hinter ihr und hielt den geöffneten Schirm schützend über sie. Sie blickte über ihre Schulter und sah, wie er sie anlächelte, unschuldig, treu, wunderschön und kostbar. Sie würde alles tun, um ihn zu beschützen. 

„Hi… ich helfe gern aus.“, er schüttelte den Schirm leicht in seiner Hand. Man sah ihm an, dass er es genoss, ein Gentleman zu sein. „Ich habe meinen Schirm absichtlich vergessen, um dir einen Gefallen zu tun…“, sie liefen gemeinsam los. „Einen Gefallen?“, neugierig hakte er nach. „Ich wollte dir doch nicht die Gelegenheit nehmen, mir deine tugendhafte Ritterlichkeit erneut unter Beweis zu stellen.“ Er lachte: „Danke. Sehr zuvorkommend von dir. Ich hoffe, ich vermassel es nicht.“ „So lange du nicht hinfällst und direkt mit dem Gesicht im Matsch landest.“, Wednesday liebte es, mit ihm zu reden. Doch an diesem Tag spielte sie ihm etwas vor. Das Smartphone in ihrer Tasche wog hunderte Kilo, das Bild von ihm spukte in ihrem Kopf umher und sie versuchte, es mit spielerischem Small Talk vor ihm zu verstecken. Ihre Sorge um ihn, ihre Sorge um sein kostbares Leben.

Die Fahrt nach Jericho ging schneller als gedacht. Direkt gegenüber dem Krankenhaus hielt der Shuttle Bus, der immer am Wochenende zwischen Nevermore und der Stadt hin und her pendelte. Wednesday, deren Mantel immer noch leicht klamm war, stand neben Xavier direkt vor dem Eingang des grauen Gebäudes. Sie starrte auf die gläserne Tür und blickte sich dann um, sie drehte sich und inspizierte die Umgebung. Xavier folgte ihrem Blick. Sie machte ihn nervös: „Ist alles in Ordnung?“ „Ich hätte allein gehen sollen.“, sagte sie nervös zu sich selbst. „Ich denke, das hatten wir besprochen?“, er suchte ihren Blick, doch sie ignorierte ihn. „Ich begleitete dich.“, er griff nach ihrer Hand, die unglaublich kalt war. Nun sah sie ihn an und drückte ihre Finger fest zusammen, dass es ihn beinahe schmerzte: „Hör zu… ich rede mit ihr, du brauchst nichts sagen… okay? Wir beeilen uns… ich denke, wenn alles gutgeht, sind wir in 20 Minuten wieder zurück…“, sie schluckte, „Dann fahren wir direkt zurück zur Schule.“ 

Xavier spürte es deutlich. An ihren zitternden Brauen und an ihrem festen Griff erkannte er, dass sie etwas bedrückte, dass sie sich Sorgen machte. „Dann los. Lass uns keine Zeit verlieren.“, sagte er hektisch, schließlich wollte er doch Wednesday genauso schnell wieder in Sicherheit wissen. Hand in Hand gingen sie in das Krankenhaus. Am Empfang wurden sie freundlich begrüßt von einer Schwester. Die rothaarige, junge Frau in hellblau winkte die beiden zu sich: „Hallo. Wie kann ich euch helfen?“

Wednesday trat mit Xavier an der Hand an den Tresen heran und legte ihr freundlichstes Lächeln auf, das sie in ihrem Repertoire finden konnte: „Ich bin Kim Espinosa, die Cousine von Grace. Ich weiß, wir könnten Schwestern sein, so ähnlich sehen wir uns.“, sie lachte auf, Xavier erschrak beinahe, hatte er sie noch nie so lächeln gesehen, „Aber nein, sie ist meine Cousine und das ist mein Freund, Ben Darcy.“, sie hob Xaviers Hand an, „Wir drei waren als Kinder unzertrennlich. Wir wollen sie gern besuchen. Grace Espinosa.“ Xavier starrte auf ihre und seine Finger, die fest miteinander verbunden waren. Dieser Auftritt war was vollkommen Neues. Die Tatsache, dass sie ihn als ihren Freund vorgestellt hatte, ihre Augen, die dabei strahlten, vernebelten ihm die Sicht und er konnte kein Wort sagen, als die Krankenschwester ihn etwas fragte. „Sie heißen Darcy… wie Mr. Darcy? So wie in Stolz und Vorurteil?“, die Dame schenkte ihm ein verliebtes Lächeln, „Was ein wunderbarer Film.“ Verträumt blickte die Frau in die Luft. Er schluckte und versuchte irgendwie, ein Wort herauszubringen, er stammelte: „Ja das ist er. Wirklich wunderbar.“

Woe is me, my loveWhere stories live. Discover now