Kapitel 7

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Es waren nur wenige Stunden Schlaf, doch Wednesday fühlte sich überraschend munter. Sie ging den ersten Tag des neuen Semesters in Gedanken durch und wusste, dass sie Xavier früher oder später begegnen würde. Vielleicht sogar schon direkt auf dem Gang, auf dem Weg zum Frühstück. In ihrem Kopf überschlugen sich die Ereignisse. Sie kannte ihn gut und war sich bewusst, dass er mit ihr sprechen wollen würde, fragen würde, warum sie mitten in der Nacht in seinem Studio geschlafen hatte. Sie wusste es selbst nicht einmal. Sie hatte keine Antwort darauf. Nicht wirklich. Sie wusste nur, dass sie in seiner Nähe sein wollte und aus irgendeinem Grund, schien das der beste Ort dafür gewesen zu sein. Ohne es zu wissen, fand sie ihn schließlich auch dort oder besser gesagt, er hatte sie gefunden. Sie stand auf und zog sich schnell ihre Uniform an, noch bevor Enid überhaupt aufgewacht war. 

Wednesday musste ihm aus dem Weg gehen. Das stand für sie fest. Zumindest so lange, bis sie eine Antwort für ihn hatte. Eine plausible Erklärung, warum sie sich so verhielt. Eine Lüge kam nicht in Frage, nicht nach allem, was geschehen war. Das war sie ihm schuldig. Und dann waren da auch noch ihre Visionen. Um alles in der Welt musste sie auf Abstand gehen. Enid, Eugene, Ajax, Bianca, allen anderen und vor allem auch Xavier gegenüber. Sie wollte wenigstens ein paar Tage auf schlimme Vorahnungen und dunkle Szenarien in ihrem Kopf verzichten.

Enid drehte sich im Bett mehrmals hin und her. Wednesday sah zu ihr rüber.

Sie wird gleich aufwachen…

„Ich gehe schon einmal zum Frühstück…“, rief Wednesday ihr noch schnell hinüber, bevor sie aus der Tür verschwand, nur um ihr aus dem Weg zu gehen. Enid steckte ihren Kopf aus der Bettdecke und sah sich nach ihrer Mitbewohnerin um, die schon wieder über alle Berge war.

Ohne aufzublicken oder jeglichen Augenkontakt eilte Wednesday durch die Gänge in Richtung Speisesaal. Nur ein paar wenige Schüler kreuzten dabei ihren Weg. Sie dachte darüber nach, dass Essen einfach ausfallen zu lassen. Schließlich würde sie dort auf jede Menge Schüler und Lehrer treffen – potenzielle Visionen. Doch die schlaflose Nacht hatte ihr alle Kräfte geraubt. Sie hatte riesigen Hunger. So sehr wie lange nicht. 

Sie stellte sich an die Theke, nahm sich schnell ein riesiges Glas Blutorangen-Saft und dazu einen Bagel, einen Apfel steckte sie direkt in ihren kleinen Rucksack. Sie suchte sich einen der hinteren Plätze im Saal. An der langen Bank setzte sie sich genau an das Ende, direkt neben die Wand. So konnte sie sichergehen, dass sie, wenn dann nur auf einer Seite mit jemanden konfrontiert wurde. Sobald sie saß, setzte sie das Glas an und trank es in einem Zug aus. Als sie es abstellte, sah sie ihn, wie er geradewegs auf sie zukam mit seinem Tablett. Grinsend, strahlend, schöner als jemals zuvor. Sie verschluckte sich beinahe.

Sie starrte zurück auf ihren Bagel, schnappte sich ihn und stand auf, gerade als er sich ihr gegenübersetzen wollte. „Darf ich?“, fragte er und nickte mit seinem Kopf in Richtung Bank. Wednesday fiel fast der Bagel aus der Hand: „Ich wollte gerade gehen. Ich muss nochmal in die Bibliothek.“ Sie hatte sich schon fast umgedreht, als sie versteinert stehenblieb, um sich dann doch dagegen zu entscheiden. Sie nickte ihm zu. Viel zu gern wollte sie wissen, wie es ihm geht, was er die letzten Wochen so gemacht hat, wo er gewesen war. Oder wollte sie einfach nur seine Stimme hören, ihn ansehen, bei ihm sein? Sein Grinsen kam zurück und er setzte sich. Wednesday tat es ihm gleich. Nun saßen sie sich gegenüber und eine kurze Stille im Saal, die eine gefühlte Ewigkeit andauerte, schien es beiden unendlich schwer zu machen, überhaupt ein Wort herauszubringen.

Xavier ergriff die Initiative. In ihm brodelten so viele Fragen. Er konnte kaum klar denken, als er sie ansah auf der Suche in ihren Augen, wonach er fragen durfte und wonach nicht. Sie blinzelte kein einziges Mal und war ein Buch mit sieben Siegeln für ihn, ein Mienenfeld. Er räusperte sich: „Hast du gut geschlafen?“ Was besseres viel ihm nicht ein für den Anfang, doch wissen wollte er es dennoch. Wednesday lief rot an. Er hatte sie ertappt. „Ich habe gut geschlafen. Nicht viel, aber dafür ruhig. Mein Schlaf war sehr zufriedenstellend.“, antwortete sie trocken, so als wüsste sie nicht, wovon er spricht. Er hielt inne. Hoffte insgeheim, sie würde ihn dasselbe fragen oder irgendetwas anderes. Doch es kam nichts. Kein Ton, keine Regung. Wednesday war wir erstarrt. In ihrem Kopf formulierte sie so viele Fragen, dass sie kaum noch etwas verstand, von dem, was er sagte. 

Woe is me, my loveWhere stories live. Discover now