Kapitel 12

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„Wo zur Hölle seid ihr gewesen?“, Enid schrie sie förmlich an, „Ich hab kaum geschlafen…“ Wednesday hatte beinahe ein schlechtes Gewissen, als sie ihre Mitbewohnerin betrachtete. Die dunklen Augenringe, ihre chaotische Frisur und der fiese Ausdruck in ihrem Gesicht, der sie aussehen ließ wie eine Verrückte.

„Wir konnten uns nicht auf die Suche machen nach euch, wollten kein Aufsehen erregen… nur die Nachtschatten wissen davon…“, sie lief wie unter Strom durchs Zimmer, drehte sich immer wieder zu Wednesday um. „Ich hoffe doch sehr, dass sich euer kleiner Ausflug…“, sie machte mit ihren Fingern hektisch kleine Hasenohren in die Luft, „…gelohnt hat und ach ja, falls es dich interessiert, wir haben verloren…“. Wütend ließ sie sich auf ihr Bett fallen, um nun enttäuscht Wednesday zu Wort kommen zu lassen.

„Es tut mir leid, Enid. Ich wollte das nicht. Ich wollte dich nicht erschrecken… es ist nichts weiter passiert. Xavier hat mir Gesellschaft geleistet. Wir haben uns versteckt und sind eingeschlafen. Das wars auch schon.“, wie ein Roboter sprach sie die Worte aus. Wednesday brachte allen ihren Sanftmut auf und quälte sich sogar ein kleines Lächeln auf die Lippen. Sie dachte an Xavier, was er gesagt hatte. Dass sie Enid entgegenkommen soll.

Die war immer noch stinksauer: „Das mag vielleicht so stimmen, aber du kannst nicht einfach jede Nacht spurlos verschwinden, nach allem, was hier passiert ist… und dann redest du nicht mehr mit mir und…“ Wednesday unterbrach sie, in den Händen hielt sie ihr Smartphone und schaltete es ein: „Hör zu, ich gebe dir meine Nummer und verspreche, dass ich es immer wieder anschalte, in Ordnung? Ich werde antworten, ok?“ Enids Augen starrten ungläubig auf das Display und dann wieder direkt zu ihr. Sie war fassungslos.

„Du willst es benutzen und mir deine Nummer geben?“, sie konnte ihre eigenen Worte kaum glauben. Wednesday nickte und setzte sich neben ihre Mitbewohnerin aufs Bett, es war ungewohnt und fremd für sie, das Zimmer nun aus der anderen Perspektive zu sehen. Sie hielt so weit es ging Abstand und drehte sich dann zu Enid: „Es tut mir wirklich leid.“ Enid löste ihre verschränkten Arme und beruhigte sich. Innerhalb von wenigen Sekunden wechselte ihre Stimmung von wütend zu unerträglich aufgeregt und vorfreudig: „Das wird super… ich kann dir richtig coole Videos schicken und Memes und Gifs und…“ Wednesday schenkte ihr einen Todesblick: „Übertreib´s nicht…“ „Okay, ich gebe mein Bestes…“, versprach sie. 

Kurz schwiegen sie und dann wagte Enid eine weitere Frage: „Du und Xavier? Was ist da los?“ Wednesday sah auf ihr Telefon, polierte das Display mit ihrem Ärmel und gab zu: „Er ist akzeptabel… erträglich… er hilft mir, mit ein paar Dingen klarzukommen… mehr weiß ich auch nicht…“ Wednesday hatte die Wahrheit gesagt und Enid war mehr als glücklich über diese Antwort: „Okay, das ist gut.“ Enid nickte ihr zu und sah ihr zufrieden hinterher, als sie sich auf den Weg ins Bad machte.

Wednesday schloss eilig die Tür und starrte in den Spiegel. Sie fühlte sich anders, irgendwie repariert. Wenn auch nur ein bisschen. Xavier hatte ihr die Angst genommen, ihre gezeigt, dass sie ihm vertrauen kann, dass sie Enid vertrauen kann. Ihre Finger kribbelten, als sie daran dachte, wie sie heimlich und im Dunkeln der Kammer seine Hand gehalten hatte. Sie konnte sich ihm öffnen und das bedeutete alles für sie und auch für ihn. Das hatte sie ihm angesehen.

Er sah so glücklich aus… so, wie auf dem Foto…

Als sie sich die Zöpfe entwirrte, dachte sie zurück an die Beerdigung, an den Tag, an dem sie sich zum ersten Mal getroffen hatten. Sie dachte an sein entwaffnendes Grinsen, seine lustige und direkte Art. Damals schon hatte sie Schwierigkeiten, ihre Fassade aufrecht zu erhalten ihm gegenüber. Und heute war es nicht anders. In dieser Hinsicht hatten sie sich beide nicht wirklich verändert und aus irgendeinem Grund fühlte sie sich merkwürdig wohl bei diesem Gedanken. Als sie sich die Haare kämmte, schoss es durch ihre Glieder wie ein Blitz. Die Bürste fiel zu Boden.

Woe is me, my loveWhere stories live. Discover now