Kapitel 29

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Bereits nach wenigen Sekunden traf es ihn wie ein Schlag. Als er das Lied erkannte, pochte sein Herz unglaublich schnell. Er blinzelte, starrte auf ihre Finger, beobachtete, wie ihr Kopf leicht nickte bei jeder Bewegung, die sie mit dem Bogen machte. Enid war ebenso gebannt von ihr wie Xavier, jedoch blickte sie immer wieder aus ihren Augenwinkeln zu ihm, um seine Reaktion zu sehen.

Das tiefe Brummen des Cellos und die dennoch wundervoll verträumte Melodie durchfuhren seinen Körper. Keiner im Raum gab auch nur das kleinste Geräusch von sich. Es war wunderschön, traurig und emotional. Er konnte nicht fassen, dass das wirklich passierte. Genau wie Wednesday hatte er dieses Lied am Abend der Party in der Nachtschatten Bibliothek zum ersten Mal gehört. Seit der Sekunde, in der er sie dort hatte stehen sehen, inmitten des runden Raumes, mit roten Wangen und so liebreizend offen, verfolgte ihn dieses Lied. Ein seltener und prägender Moment, den er nie vergessen würde. Und nun strömten tausende Fragen durch seinen Kopf, getrieben von Neugier, Verlangen und Liebe.

Warum dieses Lied?

Spielt sie es für mich?

Ist es Zufall?

Woher kennt sie dieses Lied?

Seine Finger zitterten, die Papierlilie zappelte hin und her. Und als er sie von oben bis unten musterte und schließlich bei ihren Augen landete, hatte er die Antwort auf seine Fragen. Sie sah ihn an, so als wären sie allein, so als würde sie nur für ihn spielen. Ihre Augen dunkel und feurig. Und Xavier war sich sicher. Der Grund für ihre Nervosität waren nicht dieser Wettbewerb, dieser Auftritt vor allen Lehrern und Schülern. Er wusste, sie war nervös, weil sie für ihn spielte. Ein Lied, das ihm wichtig war, welches er bis ins Mark verinnerlicht hatte und nun wusste er, dass es ihr genauso ergangen war.

Als die letzten Takte erklangen, setzte er sich auf und wibbte er wie wild mit seinen Knien. Schließlich stand er. Enid zuckte für einen Moment zusammen. Dann applaudierte der gesamte Saal. Xavier hielt die Blume zwischen Zeige- und Mittelfinger und klatschte, bis es schmerzte. Er dachte an das Risiko, die Gefahr, die vom Stalker ausging, er dachte an Moody und seinen Vater, die gemeinsam hinter allem stecken mussten. Auch wenn er sich zur laufenden Zielscheibe machen würde, auch wenn diese Geste sein Ende bedeuten könnte, konnte er nicht anders, als zu ihr zu gehen. Wednesday stand unbeeindruckt auf, in ihrer Hand das Cello. Schließlich starrte sie ihn an und als sie sah, wie er sich an seinen Mitschülern auf den Sitzen neben ihm vorbeidrängelte, blickte sie sich nervös um.

Was hat er vor?

Ihr Herz schien zu explodieren und sich in tausenden Stücken und Splittern auf der Bühne zu verteilen und jeder konnte es sehen. Schließlich stand er vor der Bühne. Der Saal war immer noch am Jubeln. Xavier trat bis an den Rand des hohen Absatzes heran und hielt ihr die Lilie mit seiner rechten Hand hin. Sie sah auf seine Hand, auf die kleine blaue Blume darin. Auch wenn sie ihn später dafür anschreien und vielleicht foltern würde, konnte sie nicht anders, als sein Geschenk entgegenzunehmen.

Sie lehnte das Cello sorgsam an den Stuhl und lief zu ihm. Sie wollte es schnell hinter sich bringen, begannen die Anderen doch augenblicklich noch lauter zu jubeln voller Freude und Schaulust. Sie streckte ihre Hand nach der Lilie aus und sah ihn schließlich an. Nie hatte er sie sanfter angesehen, nie hatte sie überhaupt einen Menschen jemals so gesehen, so voller Liebe und Dankbarkeit. Es war beinahe grotesk, unwirklich und surreal und sie war fassungslos gerührt.

Sie beugte sich nach unten und griff nach der Blume. Wednesday berührte seine Hand. Und dann geschah es. Sie erstarrte, ihr Körper drehte sich im Bruchteil einer Sekunde und sie kippte über den Rand der Bühne. Lehrer, Schüler, sowie auch Enid sprangen vor Schreck ruckartig von ihren Sitzen auf. Xavier reagierte instinktiv und fing sie rechtzeitig auf. Ihr Körper und der überraschende Druck auf seinen Armen zwangen ihn in die Knie.

Woe is me, my loveWhere stories live. Discover now