Kapitel 21

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Ihre Nachricht hatte ihn getroffen. Mitten ins Herz. Wie ein unerwarteter Pfeil kam sie geschossen, direkt auf ihn, aus dem Nichts, aus der Dunkelheit und hatte ihn auf ewig gezeichnet. Aus Panik vor ihrer Reaktion, hatte er sein Telefon direkt nach seiner letzten Nachricht ausgeschalten und so ihre Worte erst am nächsten Morgen gelesen. Sonst wäre er sofort durch sein Fenster hinaus in die Kälte geklettert, er wäre wie ein Verrückter über den Schulhof gerannt, hinauf auf ihren Balkon gestiegen und dann, dann hätte er sie gestohlen, wie ein Dieb in der Nacht, in seinen Armen das Kostbarste, was er je gekannt hatte. So wurde der Tag zu einer Qual, eine nie enden wollende Katastrophe gefüllt von Sehnsucht und Frustration. Ihr ging es ähnlich.

Immer wieder, wenn sie versuchten, miteinander zu sprechen, irgendwie allein zu sein, hatte sie jemand unterbrochen. Ob beim Unterricht, im Speisesaal, auf dem Gang, in der Bibliothek oder auf dem Übungsplatz. Es war, als hatten sie sich alle gegen sie verschworen, einen Pakt geschlossen, Wednesday und Xavier auf ewig foltern zu wollen. Alles, was sie hatten, waren Blicke, kleine Berührungen, kurz und versteckt. Es war die Hölle und Xavier verlor fast den Verstand, während Wednesday versuchte, sich abzulenken. Sie entschied sich also dafür, Jolene auf die Probe zu stellen. Eine kleine Mission nach der letzten Stunde schien genau das Richtige, um den Kopf freizubekommen und Zeit rumzukriegen.

Im Gang zu Ophelia Hall setzte sie sich schließlich auf eine kleine Bank und wartete, beinahe 20 Minuten. Als sie Jolene erblickte, zuckte sie zusammen, wenn auch nur kurz. Sie stand auf, musterte sie und lief geradewegs auf sie zu.

Sie trägt keine Handschuhe… perfekt…

Jolene blieb erstarrt stehen, war sie es doch ganz und gar nicht gewohnt, dass Wednesday Addams mit ihr sprach. „Hallo“, Wednesday blieb eiskalt, „Ich wollte dich etwas fragen.“ Jolene tat es ihr gleich, ihre Stärke war nahezu identisch wie ihre, auch sie blieb eisern: „Hallo. Was willst du wissen?“ 

„Ich wollte fragen, ob ich deine Aufzeichnungen von gestern ausleihen kann? Ich kam nicht dazu, aufzuschreiben, welche Pflanzen wir auf der Lichtung gesehen haben. Fotografiert habe ich auch nicht alle.“ Wednesday zog ihre Augenbrauen nach oben, so als würde sie ernsthaft Interesse an diesen sicherlich fehlerhaften Notizen haben. „Kein Problem. Ich habe sie jetzt nicht dabei, aber wenn es ok ist, gebe ich sie dir später.“ Jolenes Grinsen war die reinste Qual für ihre Augen. Es bohrte sich in ihren Kopf und richtete dort größeres Unheil an als eine Lobotomie. „In Ordnung.“, also schenkte sie ihr ein weitaus gruseligeres Lächeln zurück.

„Achja und es tut mir leid, dass ich mich noch nicht wirklich bei dir vorgestellt habe. Wednesday Addams.“ Selbstbewusst hielt Wednesday ihr die rechte Hand hin. Für einen kurzen Moment starrte Jolene auf ihre Finger, um dann schließlich wieder in ihre Augen zu schauen. Beinahe erfreut und enthusiastisch griff Jolene nach der Hand. Nahezu im selben Augenblick erschienen weiter hinten im Gang Xavier, Ajax und ein paar weitere Mitschüler. Sie alle sahen, was geschah.

Was dann passierte, spielte sich in nur wenigen Sekunden ab. Wednesday fiel nach hinten um, ihr Körper erstarrte wie eine Statue. Sie fiel hart auf den Boden auf und Jolene folgte ihrer Bewegung, hielt sie doch immer noch ihre Hand.

Es war dunkel. Nur ein paar wenige Fackeln erhellten die Sicht. Vor ihrem inneren Auge eröffnete sich ihr eine kurze Szene. Xavier stand vor einer Staffelei, daneben eine Zweite, sein Gesicht war schweißnass, er hatte Angst. Wo er sich befand, konnte sie nicht erkennen. Doch nicht weit entfernt war Jolene zu sehen. Sie sah nur ihre Umrisse, ihren Körper. Er hob seine Hand und konzentrierte sich auf seine Finger. Schließlich änderte sich die Perspektive. Es ging so schnell, dass ihr beinahe schlecht wurde. Dann sah sie die Gemälde. Es waren die Bilder, die er von Mr. Moody und Jolene anfertigen sollte. Ihr Puls stieg immer höher und schließlich sah sie nur noch, wie Xavier das Bild von Jolene zum Leben erweckte. Er war immer noch angespannt, irgendwie in Eile, aber auf seinem Gesicht erschien augenblicklich ein breites Grinsen. Ein Grinsen, welches Wednesday mit voller Wucht und schier unerträglichen Schmerzen zurück aus ihrer Vision riss.

Woe is me, my loveWhere stories live. Discover now