Kapitel 5

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Notiz: Beim Lesen empfehle ich, die Variante von Nothing Else Matters aus der Serie anzuhören. Habe ich beim Schreiben gehört und passt perfekt. https://youtu.be/aN2c896rUXk  Ich freue mich sehr über Kommentare und Bewertungen. Danke.

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„Aber nach Nevermore geht es in diese Richtung...“, stammelte der alte Mann neben ihm im Truck und zeigte mit seinem Kopf nach links. „Da kann ich jetzt noch nicht hin...viel zu spät. Ich hab was für die Nacht... Danke...“, Xavier öffnete die Tür des Wagens. Seine beiden Koffer zog er mit einem Ruck von der Rücksitzbank. „Dann eine gute Nacht...“, winkte der Mann nur noch ab. Xavier nickte ihm zu und drehte sich um, geradewegs in Richtung Wald. 

In der Finsternis schien der Wald unendlich. Die Luft war Kalt und nass, nicht mehr lange, dann würde es zu regnen beginnen. Er musste sich beeilen. Die Koffer wurden langsam schwer und der Rücken schmerzte ihm. Dieser nie enden wollende Tag steckte in allen seinen Knochen. Sein Zug hatte eine Panne gehabt, kurz nach der Abfahrt. Die Strecke wurde gesperrt, alle Passagiere sollten die Wagons verlassen und schier endlose Stunden auf Ersatz warten. Stunden, die ihm vorkamen, wie Tage. Mittlerweile war es bereits 2 Uhr Nachts und Xavier hatte nur ein Ziel im Sinn. Seine Hütte, sein Unterschlupf, seine dunkle Oase. Lange war er nicht so müde und erschöpft gewesen. Und zu allem Übel fiel nun auch noch der Regen in riesigen Tropfen vom Himmel. Er kniff seine Augen zusammen, der kalte Wind trieb ihm die Tränen aus den Augenwinkeln. Und dann sah er es. Sein Studio erschien für ihn in diesem Moment wie ein verwunschenes Schloss und zugleich wie ein lang ersehntes Zuhause, mehr noch als sein eigentliches Heim.

Er blieb plötzlich stehen. Mit zerknirschten Augen sah er, dass die Tür offenstand. Ihn ereilte das seltsame Gefühl, dass er nicht allein war. Vorsichtig stellte er seine Koffer und den Rucksack unter das Vordach. Wie ein Kater in der Nacht schlich er sich langsam an die offene Tür. Er hob seine rechte Hand zum Schutz vor seinen Körper, aus Angst, jemand könnte ihn angreifen. Seine aufgeregten Augen musterten den Raum. Er ging langsam hinein. Es war dunkel, kalt. Traurig erkannte er, dass alle seine Zeichnungen verschwunden waren. Nichts war übrig geblieben. Er schluckte und wischte sich den Regen aus dem Gesicht, um besser sehen zu können. 

Inspizierend ließ er seinen Blick schweifen. Über seine Werkbank, seine Regale, die allesamt leer waren, bis er sich schließlich weiter umdrehte und das Sofa sah. Er blinzelte und erkannte sie sofort.

Wednesday...?

Sein Mund offen, die Augen riesig. Er musterte sie von oben bis unten und war sich nun nicht mehr sicher, ob er wach oder während seiner Reise irgendwo unterwegs eingeschlafen war.

Ein Traum...

Er ging ein paar Schritte näher heran. Leise und still. Er sah, wie sie ruhig atmete.

Sie schläft.... hier....?

Sie drehte sich zu ihm, die Augen immer noch fest verschlossen. Er erschrak. Nun stand er direkt neben ihr. Er konnte ihren Atem hören. Er ging langsam auf die Knie.

Sie ist wirklich hier...

Nie war Xavier überraschter gewesen in seinem Leben. Er hatte mit allem gerechnet. Ein Obdachloser, ein Wanderer, der Unterschlupf gesucht hatte, die Polizei oder sogar Tyler, der es auf Rache abgesehen hatte. Bei dem Gedanken an ihn, musste er schlucken. Doch dass er sie dort finden würde, schlafend auf seinem Sofa, so ruhig, so still und friedlich. 

So zerbrechlich...

Seine Gedanken spielten verrückt. Er dachte nach, was er tun sollte. Sie aufwecken, sie weiter beobachten, einfach verschwinden, still und heimlich? Klar denken konnte er nicht. Er hörte auf seinen Instinkt, auf dieses kribbelnde, warme Gefühl in seinem Bauch. Er streckte seine Hand nach ihr aus und streichelte sanft über ihre Finger, die ruhig neben ihrem Gesicht lagen und dann war er sich wirklich sicher. Es war kein Traum, keine Vision. Wednesday Addams schlief. In seinem Studio, an seinem Lieblingsort. Noch einige Minuten sah er sie einfach so an, auf dem Boden sitzend, die Hände auf seinen Beinen, den Kopf voller Gedanken und das Herz voller Wärme. Seine Müdigkeit war dahin. Seine Finger zitterten vor Aufregung und dann mit einem Mal öffnete sie ihre Augen.

Sie sah ihn an, als ob sie einen Geist gesehen hatte. Versteinert blieb sie einfach liegen, musterte seine Züge. Er schenkte ihr ein Lächeln, schöner als alles andere, was sie jemals gesehen hatte. Wednesday schlug das Herz bis zum Hals. Sie konnte es nicht glauben, bis er sanft und leise sprach: „Guten Morgen... oder wohl eher gute Nacht...“, er sah verschämt in Richtung Tür, in die Dunkelheit draußen im Wald. Sie folgte seinem Blick, nur um ihn die dann wieder anzustarren. „Xavier...?“, hauchte sie.

Zu mehr war sie nicht in der Lage. Nie war ihr etwas peinlicher gewesen, nie hatte sie sich jemanden so gezeigt, nahezu offenbart. Sie setzte sich ruckartig auf. Die Haare zerzaust, die Zöpfe beinahe offen. Sie zog ihre Jacke zurecht und stand auch schon einen Augenblick später auf ihren Füßen. Verwundert sah er sie an und erhob sich ebenfalls langsam. Noch bevor er wirklich stand, war sie auch schon zur Tür hinausgerannt. Ihr Gesicht glühte im kalten Nachtwind. Sie blieb kurz stehen, um die richtige Richtung zu finden und dann stand er auch schon hinter ihr. „Es ist okay … warte …“, sprach er sanft und hob seine Hand. So als wolle er sie festhalten. Sie schüttelte ihren Kopf und machte sich geradewegs auf den Weg zurück zur Schule.

Xavier wusste, er könnte sie nicht aufhalten. Ihm fehlten die Worte. Er war sprachlos, verwundert, überrascht und bis Unendliche gerührt. Also ließ er sie gehen und blieb einfach reglos in der Kälte stehen. Er sah nach oben hinauf in die Dunkelheit, ließ die Tropfen auf seine müden Augen fallen und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Dieser Moment war ein Geschenk des Himmels, dachte er sich. Nie würde er ihr Gesicht vergessen, die roten Wangen vom Schlaf zerknautscht und ihre riesigen Augen, als sie ihn erblickt hatte. 

Wednesday rannte. Sie wurde klitschnass. Es war egal. Vollkommen egal. Ihr Herz raste immer noch wie wild und sie konnte nicht anders, als einfach immer nur weiter zu laufen. In ihrem Kopf drehte sich alles.

Er ist hier... er ist wirklich hier... 

Sie stürzte mehrfach über die großen Äste, über die sie vorher noch so gekonnt gestiegen war, ohne sich auch nur umzusehen. Sein Lächeln, seine glückliche Augen hatten sie mit einem Schlag entwaffnet und die Tatsache, dass er sie so gehen hatte, so verwundbar und ohne Schutz, raubte ihr den Verstand. Und gleichzeitig war sie unendlich froh, ihn wiederzusehen. Zu wissen, dass es ihm gut geht, dass er zu ihr zurückgekommen war, obwohl sie ihn so mies behandelt hatte. Er war freundlich zu ihr gewesen, hatte sie angestrahlt, hatte gewollt, dass sie bleibt, obwohl sie ihm nie geschrieben hatte.

Xavier... du wirst mein Untergang sein...

Sie war sich sicher, dass dieses Semester anders werden würde. Vielleicht nicht so todbringend wie das Erste, aber um einiges schwieriger, komplizierter und verworrener, gab es da doch diesen einen Jungen, der Wednesday Addams um den Verstand brachte, sie nicht klar denken ließ und sie so aus der Bahn warf, dass sie kaum Halt fand auf ihrem Weg zurück über die nassen Pflastersteine.

Sie rannte die steinernen Treppen hinauf und erschrak. Vor ihr stand plötzlich ein dicker, rundlicher Mann mittleren Alters: „Miss Addams, wir haben sie schon vermisst...“, seine kratzige Stimme hallte noch lange durch den Gang und ihren Kopf. Erst dann wurde ihr wieder bewusst, wie spät es eigentlich war. Sie nickte nur kurz und wusste ohne weitere Worte, dass sie ihm folgen sollte. Dem neuen Direktor, Mr. Moody.

Woe is me, my loveWhere stories live. Discover now