Kapitel 25

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Der Tag wollte einfach nicht enden. Die Stunden zogen sich. Xavier konnte dem Unterricht nicht mehr folgen. Jedes Mal, wenn ein Lehrer oder Mitschüler ihn ansprachen, hatten die Worte ihn aus seiner Trance gerissen, aus seinem Tagtraum, der nur von ihr handelte. Die Erinnerung an die vergangene Nacht würde auf ewig in seinem Kopf eingebrannt bleiben. Auch nach Jahren, Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten würde er sich an jedes Detail erinnern können, da war er sich sicher.

An ihre roten Wangen, die kleinen losen Haare aus ihren Zöpfen, die im Wind auf und ab tanzten, ihr kleiner Körper, eng an Seinem und der Geschmack des Whiskeys, den er immer noch auf seinen Lippen schmecken konnte. Ihre Küsse, ihre dunklen Augen, die tiefschwarz gewesen waren, wie zwei schwarze Löcher, welche ihn komplett verschlungen hatten. All das würde er nie vergessen. Und nun saß er da und starrte auf die Uhr, zählte die Sekunden, bis sie sich endlich wiedersehen würden. Allein in seinem Atelier.

Wednesday erging es ähnlich. Ihre Neugier auf das, was Xavier da geplant hatte, machte es ihr jedoch noch schwieriger, den Tag schnell hinter sich zu bringen. Sie wollte rational bleiben, durch eine gekonnte Analyse der vergangenen Nacht herausfinden, was er im Atelier vorhaben könnte. Doch nach allen Überlegungen landete sie in ihren Gedanken immer am selben, vollkommen irrationalen Punkt, der sie kein Stück weiterbrachte. Es war frustrierend.

Er ist wie eine Droge… und ich bin süchtig…

Sie drehte sich im Kreis. Sie wollte sich an seine Worte erinnern, doch alles was ihr einfiel, war das helle Weiß des Mondlichts, das sein Gesicht so zerbrechlich aussehen ließ. Sie wollte sich daran erinnern, was Mr. Daniels zu ihnen gesagt hatte, doch alles was ihr einfiel, waren Xaviers Lächeln und seine Hände auf ihrem Gesicht, als er sie immer wieder geküsst hatte. Sie wollte sich sogar daran erinnern, was Bianca zu ihr gesagt hatte, doch alles was ihr einfiel, war der Moment, als er die Treppen hinunterkam, sie ihn in diesem Hemd gesehen hatte, während dieses wundervolle Lied in der Bibliothek von den Bücherregalen widerhallte.

Aus rational wurde emotional und das war absolutes Neuland für Wednesday Addams. Also entschied sie sich dazu, bevor sie zu Xavier ins Studio gehen würde, müsste sie nochmal in ihr Zimmer gehen. Sich vorbereiten, umziehen, neue Zöpfe flechten und aufgeregt im Raum auf und ab gehen. 

Gesagt getan. Enid folgte ihren nervösen Schritten. Sie saß auf ihrem Bett und blätterte in einer Zeitschrift. Immer wieder sah sie auf zu ihrer Freundin. „Ich würde dir ja sehr gern einen Rat geben… so wie es aussieht, könntest du einen gut gebrauchen…“, Enids Worte waren so beiläufig, dass man meinen konnte, sie würde Selbstgespräche führen. Wednesday ignorierte sie. Sie war dabei, den Reißverschluss ihres Kleides zuzuziehen. Das Kleid, welches sie am ersten Tag in Nevermore getragen hatte. Es war ihr Lieblingsstück, darin fühlte sie sich wohl. Und für ihr Treffen mit Xavier stand Wohlfühlen für sie an erster Stelle. Enid sprach weiter: „Aber da du ja nicht mit mir über Xavier reden möchtest, kann ich dir da wohl leider nicht weiterhelfen…“ 

Wednesday blieb nun plötzlich starr vor dem Bett ihrer Mitbewohnerin stehen. Was folgte, war ein alles verändernder Monolog, wie ihn die Welt von Wednesday Addams noch nie gehört hatte. Sie starrte Enid an und gestand ihr monoton: „Ich bin eine Süchtige. Vollkommen krank und vernarrt in eine Person, die nicht ich selbst bin. Ich kann nicht mehr klar denken, nicht mehr analysieren, nicht mehr artikulieren, nicht mehr laufen oder stehen, sitzen oder liegen, nicht mehr sein, ohne an diese Person zu denken. Es gibt plötzlich nicht mehr richtig und falsch, es gibt nicht mehr Schwarz und Weiß, sondern nur noch Grau. Dasselbe Grau wie die Jacke, der er gestern getragen hatte und ich kann mir nicht helfen, doch mit einem Mal ist es die schönste Farbe, die ich je gesehen habe…“ Sie atmete tief ein und aus, um sich zu beruhigen.

Enids riesige Augen, die mit jedem Wort ihrer Freundin größer geworden waren, durchbohrten sie. Sie räusperte sich und schließlich entfaltete sich in ihrem Gesicht ein riesiges Grinsen: „Ähm dann sage ich mal Gratulation… du bist ein normaler Teenager…“ Wednesday drückte mit ihren Händen gegen ihre Schläfen, die immer noch pulsierten. Ein langer Seufzer sollte den Schmerz in ihrem Kopf endlich überdecken, doch ihre Freundin macht es nur noch schlimmer. Denn Enid fügte ihre Aussage noch hinzu: „… und verliebt.“

Woe is me, my loveWhere stories live. Discover now