Kapitel 10

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Ajax schlief seelenruhig. Xavier hingegen konnte wieder einmal kein Auge zu tun und hörte noch lange Musik, seine Kopfhörer schirmten ihn ab von der Welt und allem, was ihn bedrückte. So verbrachte er meistens seine Zeit, ob daheim oder in Nevermore. Er saß auf seinem Bett, mit dem Rücken an der Wand und versuchte sich an ein paar Skizzen und Kritzeleien.

Seinen Notizblock konnte er kaum erkennen, so Dunkel war es im Raum. Lediglich eine kleine Kerze brannte auf seinem Nachttisch. Jeder Strich schien wie ein kleiner Kampf. Das Zeichnen fiel ihm schwerer, seit er seine Gabe verloren hatte. Immer wieder setzte er ab und beobachtete das Zittern seiner Finger. Als er letztlich erkannte, wohin ihn sein Kunstwerk führen würde, warf er den Block beiseite aufs Bett. Wieder einmal hatte er, ohne es zu wollen, sie gezeichnet. Dieses Mal waren es ihre Hände, wie sie auf der Tastatur einer Schreibmaschine lagen, die Fingernägel schwarz, die Handgelenke zart und zerbrechlich. Sie schienen wie Knochenhände, blass und wunderschön. Er starrte auf den Block und erschrak mit einem Mal. Über seine Kopfhörer hatte er plötzlich den viel zu lauten Benachrichtigungston einer neuen Nachricht gehört. 

Er griff nach seinem Smartphone, vollkommen ahnungslos, wer ihm zu dieser Tageszeit schreiben könnte. Er entsperrte es und sah die Nachricht. Sein Herz raste. Augenblicklich beugte er sich hinüber zum Nachttisch und pustete die Kerze aus. Er verkroch sich unter seiner Decke und begann zu lesen. Er fühlte sich wie ein kleiner Junge an Weihnachten, der dabei war, das größte Geschenk von allen auszupacken.

Seine Augen huschten schnell über den hellen Bildschirm. Mit jedem Buchstaben, mit jedem Wort, das er las, schien sein Puls höher zu steigen. Nahezu ins Unermessliche.

… bis dahin hoffe ich ebenso, dass das Leben es gut mit dir meint. Sehr. Wednesday Addams …

Nachdem er ihre Nachricht an die 20-mal gelesen hatte, legte er sein Telefon beiseite, neben sich aufs Bett. Er konnte es nicht glauben und bewegte sich keinen Zentimeter. Sein Herz raste, sein Körper war versteinert. Nur seine Augen waren nervös und auf der Suche nach etwas im tiefen Schwarz des dunklen Zimmers. Er suchte nach Antworten. Antworten darauf, warum er sich so fühlte, warum sie sich so verändert hatte und wohin das alles führen würde. Er formulierte in Gedanken immer wieder Sätze und Phrasen, wog im Kopf jedes einzelne Wort ab, bis er sich schließlich überwinden konnte.

Hi. Ich freue mich sehr über deine Nachricht. Sie bringt meinen verrückten und chaotischen, ersten Tag zu einem passablen Ende. Thomas Gray werde ich mir ansehen. Vielleicht haben wir ein Exemplar hier in der Bibliothek. Ich danke dir, für vorhin… dass du vorbeigekommen bist. Das weiß ich zu schätzen. Ganz im Ernst. Das Leben scheint es wirklich gut mit mir zu meinen … jetzt sogar wieder ein bisschen mehr. Gute Nacht, Wednesday. 

PS: Das Angebot steht immer, es war nie anders, ich bin da, wenn du reden willst. Über was auch immer. Xavier.

Die Nachricht war raus und es gab kein Zurück mehr. Xavier legte das Telefon neben sich auf sein Kissen. Er starrte auf das Gerät und wartete. Beinahe 10 Minuten lang lag er so da. Nichts passierte und er war sich sicher, noch eine Antwort von ihr war in dieser Nacht nicht mehr drin. Doch das war alles anderes als schlecht. Die Euphorie über diese eine Nachricht schien bis in alle Ewigkeit zu genügen. Er gab sich damit zufrieden und schloss ruhig seine Augen. Anders als erwartet, schlief er schnell ein. Ein lang ersehntes Geschenk, was Wednesday ihm beschert hatte – endlich wieder ruhig einschlafen zu können.

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Vollkommen zerzaust und unendlich müde wachte Wednesday am nächsten Morgen auf. Enid war schon dabei, sich anzuziehen. „Guten Morgen Schlafmütze…“, rief sie rüber auf die andere Seite des Raumes. Wednesdays Knochen schmerzten. Die halbe Nacht hatte sie wachgelegen und über den Stalker nachgedacht, über Xavier und ihre eigene Rolle in diesem verworrenen Spiel. Die Sorge um Xavier war ruckartig zurück in ihrem Körper und weitaus schmerzhafter als ihr strapazierter Rücken. Sie rutschte beinahe aus ihrem Bett und hatte Schwierigkeiten, gerade zu stehen, so müde war sie.

Woe is me, my loveWhere stories live. Discover now