Kapitel 19

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Mrs. Ashton schrie beinahe. Keiner ihrer Schüler dachte auch nur daran, ihr zuzuhören. Sie redeten alle durcheinander, als sie auf dem Vorplatz der Schule aufgereiht standen und warteten. „Jetzt seid verdammt nochmal still!“, ihr Gesicht lief rot an. Enid und Ajax zuckten zusammen, genauso wie alle anderen. Lediglich Wednesday und Xavier hatten die ganze Zeit über gewartet, ohne einen Ton von sich zu geben.

Sie standen sich im Halbkreis gegenüber. Immer wieder hatten sie Blicke ausgetauscht. Wednesday wich ihm immer wieder aus, nur um dann erneut zu ihm zu schauen. Irgendwie schien er anders, stiller als sonst, aber dennoch glücklich. Er strahlte und sie konnte nicht anders, als ihn anzublicken. „Endlich… der heutige Tag ist dafür da, euer Wissen in Pflanzenkunde aufzubessern und natürlich auch, um euch zu beweisen. Auf unserer Wanderung sollt ihr seltene Pflanzen entdecken, bestimmen und fotografieren. Der einzige Tag, an dem ich Euch gestatte, die Handys im Unterricht zu benutzen.“, sie hob ermahnend ihren Zeigefinger. „Wer mir am Ende ein Foto eines seltenen Exemplars vorweisen kann, bekommt eine gute Note.“

Sie blickte in die fragenden Gesichter ihrer Schüler: „Verstanden? Und sie bleiben alle auf den gekennzeichneten Wegen. Treffpunkt ist in 3 Stunden der verwilderte Garten des verlassenen Taylor Anwesens. Dort machen wir Pause. Die Koordinaten finden sie auf dem Handout. Meine Telefonnummer haben sie auch, falls etwas passieren sollten. Bleiben Sie bitte immer mindestens zu zweit.“ Sie nickte, als sie bemerkte, dass sie ihre Liste im Kopf abgearbeitet hatte. Schließlich klatschte sie laut in die Hände: „Dann los!“ Als sich keiner der Schüler in Bewegung setzte, wedelte sie wie wild mit ihren Händen: „Husch husch! Wer zuerst kommt, malt zuerst!“

Ajax griff intuitiv nach Enids Hand. Wednesday blieb wie angewurzelt stehen, genauso auch Xavier. Alle anderen waren bereits unterwegs in Richtung Waldesrand. „Kommt ihr!?“, rief Enid beiden zu. Sie und Ajax waren auch schon einige Meter vorgelaufen. Wednesday und Xavier gingen schließlich die wenigen Schritte, die sie noch trennten, aufeinander zu.

Sie blickte hinauf zu ihm und er biss sich auf die Lippe. Ihre Frage überraschte ihn: „Und du bestehst darauf, dass ich frage?“ Sie erinnerte sich augenblicklich an den Moment zurück vor seiner Hütte, als sie ihn zum Rabentanz eingeladen hatte. Er schüttelte leicht seinen Kopf und lächelte ihr entgegen, auch er hatte ein Deja Vu: „Nein, dieses Mal nicht…“, er räusperte sich, „Ich bin dran. Würdest du mit mir nach seltenen Pflanzen suchen, Wednesday?“ Und sie wiederholte seine Antwort von damals. Im Bruchteil einer Sekunde und mit nervöser Stimme sagte sie: „Ich würde sehr gern mit dir nach seltenen Pflanzen suchen.“ Gemeinsam liefen sie los und Wednesday ergänzte mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen: „Dachte schon, du fragst nie.“

Sie waren so aufeinander fixiert und von der Anwesenheit des anderen gebannt, dass sie nicht bemerkten, dass sie nicht die letzten Schüler ihrer Gruppe waren. Weit hinter ihnen liefen Jolene Moody und Gregor Smith, ein eher unscheinbarer Schüler, der in den letzten Tagen oft an ihrer Seite gewesen war.

Der verworrene Waldweg war nicht sehr breit, nicht einmal 3 Meter. Xavier und Wednesday liefen dennoch nebeneinander. Beim Steigen über Äste und Wurzeln berührten sich immer wieder ihre Seiten. Die Morgenluft war kühl und die Stille des Waldes hatte etwas Beruhigendes, selbst für Wednesday. In der Natur fühlte sie sich meistens wohl, ob beim Ausheben eines Grabes, beim Angeln oder beim Sammeln giftiger Kräuter und Farne. Sie schwiegen für eine Weile und genossen einfach nur das Alleinsein zu zweit. Doch in Xavier brodelte die Sorge. Die Sorge um sie und ihren Besuch beim Direktor: „Du hast geschrieben, dass Moody dich ausgefragt hat… was ist passiert, was wollte er?“ Seine Stimme war ernst.

Sie sah kurz zu ihm, die Sorge stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Er hat gefragt, warum wir das Kino eher verlassen haben.“, Wednesday verstand noch immer nicht, warum Moody sich so für sie interessierte, „Ich habe ihm gesagt, dass ich mich geschnitten habe… und dass ich kein Blut sehen kann.“ Xavier blieb kurz stehen und starrte sie skeptisch an, sein Lachen erhellte den gesamten Wald: „Und das hat er dir geglaubt?“ Sie war in dem Moment ebenso überrascht gewesen darüber, aber es hatte funktioniert. „Und er wollte wissen, ob ich viel Zeit mit dir verbringe?“, sie verschluckte das letzte Wort beinahe. Xavier konnte in Wednesdays monotoner Art zu reden selten, bis kaum Emotionen erkennen, vielmehr lesen konnte er immer in ihren Augen. Doch nun hatte er es auch gehört. Sie war besorgt. Erneut blieb er stehen, doch dieses Mal wandte er sich zur Seite und drehte sie an den Schultern zu sich. Er beugte sich nah zu ihr herunter: „Er wollte wissen, ob du viel Zeit mit mir verbringst? Warum? Was geht ihn das an?“ Seine Augen huschten nur so über ihr Gesicht.

Woe is me, my loveWhere stories live. Discover now