Kapitel 2

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„Xavier Thorpe...", eine eintönige Stimme hallte durch den langen, dunklen Flur, der nur mit wenigen, kleinen Wandleuchten erhellt wurde. Und wieder, aber dieses Mal etwas lauter: „Xavier Thorpe!". Dieses Mal wurde das Rufen durch ein Klopfen untermauert. „Xavier Thorpe!!! Es ist Zeit, dass sie herauskommen!!!" Das Klopfen wurden energischer. Mr. Irving, der Hausbutler, stand mit einer gehobenen Hand vor einer schweren, hölzernen Tür mit schwungvollen Intarsien und Gravuren. Erneut rief er: „Wenn Sie jetzt nicht ihre Tür öffnen und mit mir kommen, dann werde ich Ausschau nach ihrem Vater halten und ihn bitten, höchstpersönlich an ihre Tür zu klopfen! Sie wissen ja, was das bedeutet."

Hinter der Tür hörte man ein Rascheln. Das Schloss der Tür wurde betätigt und sie öffnete sich, wenn auch nur ein paar Zentimeter. „Sagen sie meinem Vater, dass ich bald da bin... ich muss noch einige Dinge zusammensuchen.", antwortete Xavier genervt und mit rauer, leiser Stimme, sodass man es kaum verstehen konnte. Ohne weiter darauf einzugehen, marschierte Mr. Irving Kopf schüttelnd davon. Die Tür blieb offen.

Xavier war in keiner guten Stimmung. So viel stand fest. Nur langsam packte er seine Sachen zusammen. Er steckte seine Kohlestifte, einige leere Notizblöcke, sowie einen kleinen Stapel Bücher in seinen Rucksack. Sein großer Reisekoffer lag ausgebreitet auf seinem Bett. Die Kleidung war chaotisch und unordentlich hineingeworfen worden. Sein Zimmer war eher klein und eintönig, wären da nicht die viele großen und kleinen Zeichnungen auf Papier, Leinwand oder auch Pergament an seinen Wänden. Er ließ seinen Blick über den Raum schweifen und dachte daran, dass er in nur wenigen Stunden woanders schlafen würde. Unsicher über das, was ihn erwarten würde, ging er langsam zu seinem extravaganten Kleiderschrank mit nahezu identischen Gravuren wie seine Zimmertür. Er öffnete die linke Seite des Schranks, um darin nach etwas zu suchen.

Was er darin finden wollte, war schnell vergessen. An der Innenseite der Schranktür hingen Skizzen, fertige Gemälde - größere und kleinere. Alles Portraits von ihr. Ihr Profil, manchmal auch nur ihre Augen, ihre Hände, auf denen eine Rabe saß, aber auch einige Bilder, wie sie spielend am Cello sitzt. Er musterte jedes einzelne Kunstwerk. Er warf die Tür mit einem Schlag ruckartig wieder zu und drehte sich beinahe wütend vom Schrank weg. Er schloss die Augen und zog seine Brauen fest zusammen.

Einmal noch versuche ich es ...

Dachte er sich und wandte sich schnell wieder zurück. Er öffnete die Tür erneut und hob zaghaft seine linke Hand. Mit nahezu schmerzender Konzentration fokussierte er sich auf eines der Gemälde. Seine Augen brannten sich förmlich in das Bild hinein. Doch nichts geschah. Wednesday Addams blieb still, keine Bewegung, nicht einmal ein Zucken. Er sah auf seine Hand und wieder zurück auf die Bilder, die er während der letzten Wochen gezeichnet hatte. Seine Gabe war verschwunden. Urplötzlich. Nur wenige Tage, nachdem er aus Nevermore Heim gekehrt war, war es ihm aufgefallen. Sie war fort. Warum, war ihm nicht klar. Niemandem hatte er davon erzählt. Nicht Mr. Irving, noch seinem Vater oder gar Ajax.

Nicht einmal Wednesday hatte er davon geschrieben. Nachdem er ihr einige Nachrichten geschickt und nie eine Antwort erhalten hatte, hatte er aufgegeben. Sie wollte keinen Kontakt. Er war sich sicher, sie würde nicht nach Nevermore zurückkehren und alles hinter sich lassen. Ihre Freunde, Enid, Eugene, die Schule, die Lehrer und auch ihn. Er wusste, er würde sie nie wiedersehen.

Er schloss die Tür seines Schranks und kümmerte sich um die restlichen Kleidungsstücke, die quer im Raum verteilt waren. Er stopfte sie lediglich in seinen Koffer und schlug den Deckel zu. Um noch ein letztes Mal sicherzugehen, griff er in seiner Jackentasche nach seinem Smartphone. Eine neue Nachricht. Seine Augen blitzten auf. Er entsperrte sein Handy, um zu lesen, wer ihm geschrieben hatte. Die Hoffnung, dass Wednesday ihm doch schreiben würde, war immer noch da. Auch wenn sie nur sehr klein war.

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