Kapitel 15

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Nur langsam gingen sie die steinernen Treppen hinauf, ihre Hände immer noch fest vereint. Es war bereits mitten in der Nacht und wenn sie nun jemand erwischen würde, hätte sich mindestens Wednesday einen Rauswurf eingehandelt, nachdem sie Mr. Moody an ihrem ersten Tag so die Stirn geboten hatte. Sie schlichen und als sie beide ein Geräusch hörten, musste es schnell gehen.

„Gute Nacht, Xavier.“, sie sah ihm tief in die Augen, schenkte ihm ein kleines Lächeln und wollte sich von seiner Hand lösen. Er hielt sie fest, drückte ihre Hand noch stärker. Er flüsterte: „Ich begleite dich noch zu deinem Zimmer.“ „Nein, dafür ist keine Zeit. Sie erwischen uns zusammen. Los jetzt!“, sie ließ ihn los und eilte die Treppe hinauf. Er blieb stehen und sah ihr hinterher: „Gute Nacht, Wednesday.“ Er hatte es so leise gesagt, dass er sich sicher wahr, sie hatte es nicht mehr gehört. Doch dann blieb sie stehen, wandte sich kurz noch einmal um und sah zu ihm herunter: „Geh jetzt, sonst suche ich dich Heim in deinen Alpträumen.“ Er lächelte und rief ihr viel zu laut entgegen: „Ist das eine Warnung oder ein Versprechen?“ Sie grinste über beide Ohren und war dann verschwunden.

Wednesday schlich in ihr Zimmer, hörte Enid leise schnarchen und kuschelte sich sofort in ihr eigenes Bett. Zum Glück hatte sie bereits bequeme Sachen an, sodass sie direkt einschlafen konnte, wäre sie nur nicht so aufgeregt gewesen und unter Strom. Sie starrte an die Decke und wusste sofort, dass sie Stunden brauchen würde, um einschlafen zu können. Sie dachte an seine kleinen Küsse, seine Tränen auf seinem Gesicht, seine Offenheit und sein Geständnis. Seine Fähigkeit war verschwunden und Wednesday fühlte mit ihm, jede Faser ihres Körpers hatte Mitgefühl mit ihm und seinem Schicksal. Sie schwor sich, die Lösung dieses Rätsels zu finden, ihm zu helfen, koste es, was es wolle. Und aus irgendeinem Grund hatte sie das leise Gefühl, dass, was mit Xavier passierte auch mit dem Stalker zusammenhängen musste. 

Doch wo ist die Verbindung? 

Sie schloss ihre Augen, um endlich etwas Ruhe zu finden. Keine Chance.

Wer steckt dahinter? Wer will ihm etwas antun, wer will mir etwas antun? Und vor allem, warum?

Sie wälzte sich hin und her und entschied sich dagegen, es länger versuchen zu wollen. Sie würde diese Nacht nicht schlafen. So viel stand fest. Also griff sie nach ihrem Smartphone, tippte einen sechsstelligen Code ein und das Display leuchtete auf. Sie wollte ihn nicht nerven, ihn nicht wecken oder vom Schlafen abhalten, doch sie konnte nicht anders. Doch was sollte sie schreiben? Es fiel ihr schwer, small talk zu führen, Fragen zu stellen oder einfach ein Gespräch zu beginnen. Also schrieb sie das Erste, was ihr einfiel.

Wusstest du, dass Spinnenweibchen das Männchen nach der Paarung auffressen… so wie das auch Gottesanbeterinnen machen? 

Ohne ihre Worte noch einmal zu lesen, schickte sie die Nachricht raus. Sie drehte sich auf den Bauch und versteckte ihr Gesicht in ihrem Kissen, vollkommen überwältigt von ihrer eigenen Nervosität. Und ihr wurde mit einem Mal klar, was sie da geschrieben hatte. Sie hatte Xavier eine Nachricht über das Paarungsverhalten von Spinnen geschrieben. Ihr wurde schlecht. Sie wagte keinen Blick auf das Telefon, bis es vibrierte.

Er ist noch wach…

Sie griff nach dem Telefon. Ihre Finger waren kalt und zitterten. Sie holte tief Luft und las seine Nachricht.

Das nenne ich wahre Liebe. Irgendwie abartig, aber es gibt wohl keinen besseren Beweis. Fast schon rührend. Es ist schon ein romantischer Gedanke, wenn man die, die man liebt, auffressen könnte… so wären sie immer ein Teil von einem selbst, man wäre nie allein… 

Wednesday konnte kaum glauben, was sie las. Er machte sich nicht lustig über sie, zog sie nicht auf und beschwerte sich auch nicht über ihre späte, unpassende Nachricht. 

Woe is me, my loveWhere stories live. Discover now