Kapitel 4

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Kurz bevor Wednesday in den Gang, der direkt nach Ophelia Hall führte, einbiegen wollte, kam ihr Ajax entgegen. Sie nickte ihm lediglich zu. Nach ein paar weiteren Schritten fiel ihr es ein. Sie riss ihre Augen auf.

Ajax und Xavier sind Freunde...

„Ajax!", sie drehte sich blitzschnell um, um ihn nicht zu verpassen. Er stolperte fast über seine eigenen Füße, als er erschrocken stehenblieb. Wednesday kam eifrig auf ihn zugelaufen mit großen Augen und einer brennenden Frage auf den Lippen. Er musterte sie nur ungläubig. Sie räusperte sich und dachte noch ein paar wenige Sekunden nach. Sie hatte absolut keine Ahnung, was sie sagen sollte. „Jaaa...?", stocherte Ajax nach.

„Hast du was von Xavier gehört? Ich war der Meinung, ihr seid gut befreundet, schließlich habt ihr immer zusammen gegessen ... ihr habt euch seltsame Witze erzählt, die keiner wirklich verstanden hat und ihr habt über Musik gesprochen. Ich gehe also davon aus, dass du weißt, wo er ist?", sie wusste genau, sie verhielt sich merkwürdig und dass sie alles andere als unauffällig war. Ihre aufgeregte Atmung war da nicht gerade hilfreich. Er schmunzelte über ihren kleinen Ausbruch und schüttelte dann den Kopf: „Eigentlich müsste er schon hier sein, soweit ich weiß ... ist schon ein bisschen seltsam ... hab ihn noch nicht gesehen ... hatte ihm heute früh nochmal geschrieben, aber es kam keine Antwort. Warum?"

Ihre Enttäuschung und Sorge waren ihr ins Gesicht geschrieben, doch zugeben würde sie niemals, dass sie sich um Xavier kümmerte. Auf diese Frage konnte sie nun wirklich nicht eingehen, also bohrte sie einfach nach: „Und du hast auch keine Idee, wo er sein könnte ... ob er überhaupt kommt? Vielleicht hat sein Vater es untersagt?"

Ajax schüttelte den Kopf: „Das kann ich mir nicht vorstellen ... wir haben oft darüber geschrieben, wie sehr wir uns auf Nevermore freuen, dass wir es kaum erwarten können ... aber irgendwie wurde er anders ... nach ein paar Wochen ... von da an hatte er nur noch selten geantwortet. Aber hätte sein Vater es verboten, hätte er mir sicher davon erzählt und dir bestimmt auch. Also keine Sorge. Er wird schon kommen." Ajax wandte sich von ihr ab und winkte ihr beim Gehen noch zu: „Ich wünsch dir viel Erfolg bei der Suche. Ich muss los, Enid endlich sehen. Allein." Ein Zwinkern konnte er sich nicht verkneifen.

Wednesday unterdrückte den Gedanken an Enid und Ajax und deren Vorstellung vom Alleinsein. In ihr brodelte es.

Er hätte mir davon erzählt ... oder nicht?

Wiederholte sie in Gedanken seine Worte nochmals. Immer wieder. Doch dann erblickte sie jemanden. Ein blondes Mädchen kam eifrig hinter einer der steinernen Säulen hervor. Sie war groß und schlank. Mit schnellen Schritten machte sie sich auf den Weg in die andere Richtung. Nur kurz hatte Wednesday das Gesicht der Blondine gesehen. Sie hatte sie zuvor noch nie gesehen.

Sie ist neu hier... sie hat uns belauscht.

Doch dafür hatte Wednesday nun überhaupt keine Zeit, keinen Platz in ihrem Kopf und auch keinen freien Gedanken. Es gab eine wichtigere Frage, der sie auf den Grund gehen wollte. Sie setzte ihren Weg fort und kam nicht wenig später an ihrem Zimmer an. Lurch stand wie eine halbtote Marmorstatue vor der Zimmertür. Er nickte ihr zu. Das Gepäck war an Ort und Stelle. Er hatte ihre Koffer, das Cello, ihre Schreibmaschine und auch die Glaskugel ihrer Eltern sorgsam im Raum aufgereiht. Wednesday bedankte sich bei ihm und schickte ihn fort. „Danke Lurch. Wir sehen uns. Sag eiskaltem Händchen liebe Grüße. Er soll mich mal besuchen kommen. Sag ihm, Enid würde sich bestimmt auch freuen." Ihr treuer Butler gab nur ein dumpfes Grollen von sich und machte sich dann schleichend auf den Weg zurück zum Auto.

Wednesday betrat ihr Zimmer. So viele Erinnerungen schlugen mit einem Ruck auf sie ein. Dieses wunderschöne Fenster strahlte immer noch in bunten Farben. Doch nur bis zur Hälfte. Auf dem Boden leuchteten die kleinen bunten Flächen wie Edelsteine hell auf. Aus irgendeinem Grund hatte sie sich daran gewöhnt. Erschöpft ließ sie sich auf ihr Bett fallen und starrte an die Decke. Sie ließ den Raum, das Licht, den Geruch und auch die Matratze ihres Bettes auf sich wirken. Dieses Gefühl kitzelte in ihrem Innersten. Ein Gefühl, was ungewöhnlich warm und beruhigend war. Eine tiefe Ruhe, ein Balsam, das ihr dunkles, verrücktes und angekratztes Wesen heilen konnte. Es fühlte sich an wie:

Woe is me, my loveWhere stories live. Discover now