Das Wasser des Erkennens

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Jeongins Pov:

Seit gefühlt mehreren Stunden saß ich allein im warmen Sand und versuchte die sanft heranrollenden Wellen zu brechen und vor mir zu teilen. Intensiv starrte ich auf das rauschende Meer und konzentrierte mich speziell auf das Wasser direkt vor mir. Ich bemühte mich, seine Beschaffenheit fassbar zu machen und gab mir Mühe, es nach meinem Willen zu lenken.

Es hörte sich genauso kompliziert an, wie es tatsächlich war. Zwar schaffte ich es ab und an, verhältnismäßig kleine Mengen an Wasser nach meinem Willen zu formen oder umzulenken, doch das Ergebnis war nicht durchgängig zufriedenstellen. Deshalb war meine kurze Hose bereits etwas nass, was bei dem warmen Sommerwetter allerdings nicht so ins Gewicht fiel.

Ich streckte meine Handflächen nach vorn und ließ sie dann langsam auseinanderdriften, um den gewünschten Effekt der Teilung zu erzeugen. Und diesmal gelang es mir tatsächlich. Die kleine, schäumende Wasserflut spaltete sich kurz bevor sie auf mich treffen konnte und spülte dafür den Sand um mich herum aus.

„Da bist du ja, Innie."

Und ab diesem Moment verlor ich die Kontrolle und die Nässe durchtränkte wieder meine Kleidung, als das Wasser ungehindert seinen natürlichen Weg nahm. Ich hingegen drehte mich zu Hyunjin um und schob schmollend die Unterlippe nach vorn.

„Ich hätte es fast geschafft", meinte ich verdrossen. 

Aber seine strahlend blauen Augen sahen so voller Hingabe und Bewunderung auf mich herab, dass ich meine entrüstete Miene gar nicht aufrechterhalten konnte. Er war bereits sehr zufrieden mit meinen Fortschritten, obwohl sie für mich so klein und unbedeutend erschienen.

Deshalb hatte ich mich heute Morgen allein aus seinem Zimmer geschlichen und war hierhergekommen, um selbst zu üben und ihn möglicherweise zu beeindrucken, wenn ich zurückkehrte oder einen weiteren Ausflug mit ihm machte. Aber jetzt war er ja bereits hier und hatte gesehen, was ich tat.

„Wie hast du mich eigentlich gefunden?", fragte ich neugierig. Immerhin hatte ich ihm nicht verraten, was ich vorhatte. Gestern Abend meinte er noch, dass er heute sowieso zusammen mit Minho einige Dinge klären müsste, deshalb wollte ich meine freie Zeit nutzen. Bis jetzt verstand ich meine neuen Kräfte nämlich nicht vollständig. Zwar hatten die Erklärungsansätze von Hyunjin und ebenso die Theorie, die Michael durch Chan übermittelt hatte, einiges klarer gemacht, dennoch blieb mir die Verbindung mit dem Leviathan in manchen Punkten rätselhaft. Allerdings hinterfragte der Dämon dies kaum, er schien nur froh darüber, dass es mir gut ging und er mich bei sich haben konnte.

Hyunjin ließ sich nun ebenfalls neben mir in den Sand sinken, wuschelte mit einer Hand vorwitzig durch mein Haar und lächelte mich dabei auch noch frech an.

„Das Meer hat es mir verraten. Es gibt hier keine Geheimnisse für mich und wenn doch, dann ist die Unergründlichkeit Absicht und ich werde sie nicht infrage stellen."

„Das könnte man super als Metapher für unsere Verbindung lesen", erwiderte ich und rutschte ein Stück zu ihm, um meinen Kopf anschließend gegen seine Schulter zu lehnen und hinaus aufs Wasser zu blicken.

Für mehrere Minuten genossen wir die Aussicht schweigend und es war so friedlich, dass ich mich fragte, warum ich nicht schon eher das Glück hatte, Hyunjin zu treffen. Auch wenn unser Weg hierher viele Hürden aufwies, so war ich mir trotzdem beinahe sicher, dass es so kommen musste. Kein Mensch konnte ohne Entbehrungen oder größere Strapazen zu einem erfüllten Leben finden und wenn man mit einem Dämon zusammen war, dann ging das wohl noch viel weniger. 

Ich erinnerte mich an das schwierige Gespräch mit Hyunjin, das wir nach der Rückkehr aus dem Fegefeuer geführt hatten. Wir sprachen über meine Familie, über den Verlust und die Trauer, die weiterhin einen Teil von mir einnahmen. Aber langsam hatte ich akzeptiert, dass sie nicht zurückkommen konnten. Sie waren einfache Menschen gewesen und am Ende war es zwar schmerzhaft sie jetzt schon zu verlieren, dennoch hätte ich auch nicht ewig so weiterleben können. Früher oder später hätten sie erfahren, dass ich einen Dämonen zum Partner habe und sollte diese Bindung wirklich für immer halten, dann wäre es über kurz oder lang zu einer dauerhaften Trennung von meiner Familie gekommen. Ich hätte sie ohnehin verloren und vielleicht wären die Umstände anders gewesen. Aber wer wusste das schon?

Dancing with Demons 2. TeilWo Geschichten leben. Entdecke jetzt