Das Selbstbildnis des Kämpfenden

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Jisungs Pov:

Verstohlen sah ich mich um, überprüfte ein weiteres Mal, ob mich keiner beobachtete und hoffte, dass mich niemand hier erwischte. Dann zückte ich die Spraydose und schüttelte sie kräftig. Anschließend hielt ich den Sprühkopf dicht vor die glatte hellgraue Wand und übte ein wenig Druck aus. Sofort verteilte sich die hellblaue Farbe dort, wo ich sie haben wollte. Mit geübten Bewegungen zog ich die eisblauen Linien einmal quer über die Wand.

Ich wusste, dass ich schnell und präzise arbeiten musste, immerhin lief ich Gefahr, erwischt zu werden. Zusätzlich war mir von meinen Eltern untersagt worden, das Haus zu verlassen, doch heute hatte ich es nicht mehr in meinem Zimmer ausgehalten und war gewissermaßen aus den einengenden Wänden ausgebrochen. Und nun summte ich leise zu dem Song, der gerade über meine Kopfhörer abgespielt wurde. Ich mochte dieses Lied, obwohl ich mich nicht daran erinnern konnte, wann ich es zum ersten Mal gehört hatte. Es hieß Paranoid...

Genauso würde ich auch mein heutiges Graffiti nennen. Es passte wunderbar zu dem, was ich mir vorgenommen hatte.

Eilig zog ich noch einige Linien in einem mittelblauen Farbton, bevor ich radikal zu Feuerrot griff und der noch nicht besonders gut zu erkennenden Gestalt zwei Flammenflügel verpasste. Spontan entschied ich mich auch, dass der Untergrund etwas mehr von der rötlichen Farbe vertragen konnte, ebenso mischte ich kurz darauf ein Rotbraun dazu und setzte mit Orange einige Akzente und Highlights, um dem Graffiti Dimensionen zu geben.

Eifrig wandte ich mich wieder der Figur in meiner Darstellung zu und erkannte zufrieden, dass keine der Linien oder colorierten Flächen verlaufen oder unsauber gearbeitet war. Meine jahrelange Übung machte sich bezahlt. Schon wollte ich die dunkelblaue Spraydose ansetzen, um einen dunkleren Schattenbereich hinter der Person anzudeuten, als eine Stimme in meinem Kopf wie in einer Art Déjà-vu meinem Handeln Einhalt gebot.

„Nicht Ji, du weißt doch, dass du bei diesen blauen Dosen den Sprühkopf tauschen musst!"

Ein vergnügtes Kichern hallte in meinen Gedanken nach und ich schüttelte verwirrt den Kopf, bevor ich auf das Etikett der Spraydose blickte und feststellte, dass tatsächlich ein kleinerer Sprühkopf besser wäre. Also lief ich eilig zurück zu meiner Tasche, kramte das Gewünschte hervor und tauschte es aus.

Erst als ich wieder vor der Wand stand und die Sprühdose bereits anhob, fragte ich mich, weshalb ich zuvor diese Stimme vernommen hatte. Schließlich zuckte ich ratlos die Schultern und begann damit, die filigraneren Schattenlinien zu setzen und einige kleine Flächen zu füllen. Das nächste Lied erklang. Jetzt war es etwas Rockiges und ich wusste, dass ich den Song aus einer Serie kannte. Ich glaubte, mich sogar an den Titel zu erinnern, obwohl ich die Sprache nicht verstand. Irgendwie irgendwo irgendwann von einer deutschen Künstlerin. Ich mochte einfach den Beat und ich nahm mir vor, den Text zu googeln und mir übersetzen zu lassen.

Vollkommen in meinem Element und belebt von der Musik konzentrierte ich mich nun auf die Figur und den richtigen Lichteinfall auf der Haut und der Kleidung. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich wirklich zufrieden damit war. Ich hatte meine Zungenspitze an die Innenseite meiner Wange gedrückt und die Wangen zusätzlich aufgeplustert, da ich das irgendwie immer tat, wenn ich hochkonzentriert arbeitete.

Dann trat ich zwei Schritte zurück, um das Zwischenergebnis zu betrachten. „Und wie findest du es?"

Ich zuckte leicht zusammen, als ich mich diese Worte – gedämpft durch meine Kopfhörer – sagen hörte und drehte mich suchend um. Für einen Moment hatte ich den Impuls verspürt, dieses Graffiti nicht allein fertigzustellen. Ich sah nach links und rechts, weil mir die Stimme beinahe fehlte, die mir vorhin geholfen hatte. Es war seltsam, aber es fühlte sich an, als müsste eigentlich noch jemand hier sein.

Dancing with Demons 2. TeilWo Geschichten leben. Entdecke jetzt