> Part 8

110K 5.4K 609
                                    

Auch in dieser Nacht stand ich wieder in der Küche. Nur, dass ich diesmal gar nicht geschlafen, sondern die ganze Zeit wachgelegen habe. Teils, weil ich so schrecklich Magenknurren hatte, da ich den ganzen Tag überhaupt nichts gegessen und versucht hatte es zu ignorieren, solange es ging. Und teils, weil ich Angst hatte. Immer wieder spielten sich die Szenen heute in der Schule in meinem Kopf ab; wie ich die Spindtür öffnete und das darauffolgende Gelächter; Mikes Worte "Wir dachten, du würdest dich über Essenvorräte freuen."; wie irgendwas in mir aussetzte und ich geradewegs auf Mike zulief und ihm eine schellerte.

Was mir jedoch Angst machte war die Frage, was mich morgen erwarten würde.  Mike war nicht der Typ Mensch, der es hinnahm von einem Mädchen (und noch dazu war ich es!) geschlagen zu werden, das wusste ich. Ich hatte alles nur noch viel schlimmer gemacht.

Ich hätte ihn nicht schlagen sollen. Das Beste wäre gewesen, einfach wegzugehen.

Aber doch hatte es sich richtig angefühlt. Es hat  gut getan, obwohl ich gleichzeitig wusste, dass ich sozusagen mein Todesurteil unterschrieben hatte.

Oder hätte ich nicht wegrennen und mich entschuldigen sollen?

"Soweits kommt's noch, Aria!",  würde Leah sagen. "Vielleicht hast du ihm durch den Schlag ein paar Gehirnzellen zurück auf den richtigen Platz gerückt! Er hat es verdient."

Und ich wusste, dass Leah Recht haben würde. Aber ich habe es ihr nicht erzählt. Ich hatte heute so gut wie gar nicht irgendein Wort mehr gewechselt (außer als ich mich bei Sally verneinend bedankt habe, weil sie mir das Essen vor die Tür legen wollte, da ich nicht zum Mittag- und Abendessen erschienen bin, woraufhin sie wortlos wieder weggegangen ist) und mich in meinem Zimmer verbarrikadiert.

Naja, und jetzt war ich hier. Ich wusste nicht wie spät es war, aber der Mond stand noch hoch am Himmel.

Entsetzt starrte ich auf die Vanilleeisschachtel, die ich wohl gedankenverloren geöffnet hatte und die nun ganz leer war. Mein Blick fiel auf die Kekskrümel, die neben der fast leeren Kekspackung lagen und dann auf die angefangene Chipstüte. Hatte ich das alles gegessen? Meine Hand wanderte zu meinem Bauch, der sich ganz gebläht und fett anfühlte. Wieso hab ich mich nicht besser unter Kontrolle gehabt? Wieso musste ich aus lauter Frust so viel essen? Wieso hätte ich mir denn nicht einfach einen Apfel oder sowas nehmen können? Meine Hand fuhr zu meinen Oberschenkeln; ich könnte schwören, dass sie fetter geworden waren. Ich streckte meine Arme vor mir aus. Auch hier erschien es mir, als wären sie breiter und speckiger geworden.

Das Essen lag mir plötzlich ganz schwer im Magen als wäre da nur Blei drinnen. Ohne richtig zu wissen, was ich da tat, stürzte ich in das kleine Bad, beugte mich über die Kloschüssel und übergab mich.

Ich wollte das nicht. Mich überkam einfach der Drang. Das Wissen, dass ich es wieder loswerden  und meinen 'Fehler' rückgängig machen konnte, als wäre diese Fressattacke gar nicht passiert.  Ich hatte mich einfach nicht unter Kontrolle ... ich würde es nicht noch einmal machen.

Ich fühlte mich gleichzeitg beschissen und irgendwie befreit - genauso, wie ich mich gefühlt habe, als ich Mike geschlagen habe. Ich wusste, dass ich es nicht hätte tun dürfen, dennoch fühlte ich mich befreiter ... besser, als hätte ich was gemacht, was längt überfällig gewesen war. Erst im Nachhinein wurde mir klar, was die Folgen waren - in diesem Fall war die Folge die Tatsache, dass ich mich besser fühlte. Und das wiederum fühlte sich beschissen an, da ich das doch gar nicht gut finden sollte...

Ich schüttelte den Kopf - meine eigenen Gedanken verwirrten mich. Ich habe es getan und es war ein Fehler. Ich würde es nie wieder mehr tuen. So einfach ist das, redete ich mir ein.

Erst als ich die Klospülung betätigte und mich benommen auf den Klositz sinken ließ, bemerkte ich den Schatten, der an der Tür stand und ich schrie leise auf. "Wie lange stehst du da schon?" Mein Herz ballerte.

Damians Augen waren geweitet, er schien sprachlos zu sein. Demnach stand er schon eine ganze Weile dort.

"Es war nicht so wie es ausgesehen hat", log ich wohl die lächerlichste Lüge der Welt.

"Wie lange machst du das schon?", fragte er schließlich nach einer Weile. Hatte er mich überhaupt gehört?

"Ich mache gar nichts", sagte ich rasch. Aber selbst ich hörte die Verzweiflung in meiner Stimme. "Mir war einfach nur schlecht und -"

"Verkauf mich doch nicht für blöd", fuhr er mich plötzlich an und ich zuckte zusammen. "Ich hab doch gesehen, wie du - wie du dir den Finger in den Hals gesteckt hast!"

"Nein, i-ich hab n-nicht -" Ich presste die Lippen zusammen. Er hat's gesehen. Leugnen kann bringt doch sowieso nichts mehr. "Nur einmal", beantwortete ich schließlich seine Frage. "Nur dieses eine Mal."

Damian presste die Lippen nun auch zusammen. Ich wusste nicht, was in ihm vorging. Dann sagte er: "Komm mit." Ich folgte ihm leise in die Küche, wo er auf die ganzen angebrochenen und leergegessenen Schachtel starrte. Doch er sagte nichts, schob alles einfach beseite und stellte mir schließlich ein Glas Wasser hin. Mir war das alles furchtbar peinlich. "Trink das."

"Wieso?"

"Trink einfach." Ich nahm das Glas und trank es in drei Zügen aus. Der ekelhafte Geschmack nach Erbrochenen, der mir in der Kehle steckte, verschwand. Dann sagte eine lange Weile keiner was. Damian hatte seine Hände auf die Arbeitsplatte gestützt, sein Mund war ein schmaler Strich und seine Augenbrauen waren zusammengezogen.

Ich hielt das Schweigen nicht mehr aus und unterbrach die Stille. "Bitte erzähl es Dad und Sally nicht. Oder irgendwen aus der Schule."

Jetzt schaute er mich an. Sein Blick bohrte sich in meinem, doch ich konnte seine Miene nicht deuten. "Bitte. Ich tue auch alles was du willst! Ich kann deine Hausaufgaben machen oder ich kann dein Zimmer aufräumen oder -" Ich wusste beim besten Willen nicht, was ich für ihn tun könnte.

"Ich sag's keinem."

Ich war ein bisschen überrascht, aber ich nickte. "Danke."

"Vielleicht solltest du dir Hilfe holen", murmelte er, als wieder ein paar lange Sekunden vergingen. Fast hätte ich ihn nicht verstanden. Aber ich habe es und aus irgendeinem Grund wurde ich wütend.

"Hilfe? Es gibts nicht zum Helfen! Ich bin in Ordnung, Damian. Es war eine einmalige Sache", zischte ich leise, bedacht nicht Dad und Sally aufzuwecken. Die Verwirrung über meinen kleinen Ausbruch war ihm ins Gesicht geschrieben. Und ich hätte mich auch fast entschuldigt, wollte sagen, dass ich ihn nicht so hätte anschreien dürfen ...

"Und was war als ich gestern nachhause kam? Dachtest du etwa, ich wäre zu betrunken um nicht zu bemerken, dass du um halb vier morgens durch die Küche wanderst?! Dass du deine Waffeln oder was auch immer das war zurücklegt hast?" Nun schien er auch verärgert. "Gib doch einfach zu, dass du Hilfe brauchst."

"Ich habe mir einfach nur ein Glas Wasser geholt!", log ich. Ich würde hier gar nichts zugeben! Was denkt er sich eigentlich? "Ist das verboten? Zum letzten Mal - ich. habe. keine. Essstörung. Und auch keine Bulimie. Ich brauche keine Hilfe, wo nichts zu Helfen ist. Ich bin nicht krank oder psychisch verwirrt oder sonst was!" Einfach nur fett. "Und überhaupt, wieso mischt du dich da eigentlich ein? Kann dir das nicht egal sein? Es geht dich doch gar nichts an, was ich mache!" Jetzt schrie ich fast.

Ich bemerkte, wie die Muskeln an seinem Kiefer sich verhärteten und auch sein Gesicht hat sich verändert. Er war nicht länger verwirrt oder verärgert, er wirkte jetzt einfach nur distanziert. Irgendwie.

"Hör zu, ich wollte nicht -"

"Du hast Recht", unterbrach Damian mich. "Mir kann es egal sein." Und damit verließ er die Küche.

Ich ließ mich auf dem Stuhl nieder und vergrub den Kopf in meine Hände. Was war nur los mit mir? Er hat es doch nur gut gemeint, du Dummkopf.

Später, viel später, als ich dann im Bett lag und so gut wie eingeschlafen war, kam mir die Antwort auf meine Frage.

Ich war einfach nur wütend auf mich selbst.

Our Little SecretNơi câu chuyện tồn tại. Hãy khám phá bây giờ