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Ich weiß, du wirst das hier nie lesen. Doch ich hasse dich. Abgrundtief.

Über Jahre warst du bei mir. Du bist mit mir gewachsen. Ich habe dir einen Namen gegeben und dir jederzeit zugehört. Immer mehr hast du mir erzählt. Und nun hasse ich es.

Ich weiß nicht, woher du kamst. Habe ich dich erschaffen? Hast du mich gefunden? Ich weiß es nicht. Doch ich hasse es.

Jeden Satz, den du mir zugeflüstert hast, habe ich geglaubt. Sie waren die lautesten. Ich habe mich auf dich eingelassen. Jeden einzelnen Buchstaben deiner Aussagen verarbeitet, bis spät in die Nacht. Du warst der einzige Freund, den ich je hatte. Nie hast du mich verlassen. Das hat mir ein Gefühl von Wärme gegeben. Ich mochte es. Aber jetzt ist es mir bewusst, ich hasse es.

Ich habe mich voll und ganz dir hingegeben, ich wusste schon immer, dass du recht hattest. Du konntest die Realität am besten beschreiben. Du hast mir alles erklärt, wie es wirklich ist. Wer ich wirklich bin. Ich habe immer dran geglaubt und werde es immer. Und ich kann es nicht hassen, so sehr ich auch will.

Du zeigtest mir Sachen, die mir eine andere Welt geöffnet haben. Ich habe dir vertraut, egal wie sehr es schmerzte. Denn du warst immer da und ich war so verdammt begeistert.

Immer größer wurdest du. Deine Stimme wurde lauter. Mich beeindruckte es. Ich habe mich dir untergeben. Denn du hattest recht, mit allem. In den verwirrtesten Momenten hast du mir die Realität präsentiert und spät in der Nacht hast du mir die dunkelsten Fantasien gezeigt.

Immer größer wurdest du, immer lauter. Bis du mich ganz mit deiner Stimme eingenommen hast. Deine Erzählungen wurden mein Wissen, deine Gedanken wurden meine Gedanken.

Doch nun bist du weg, schon lange. Und alles was du zurückgelassen hast, sind Wahrheiten über die Realität, Wissen und Gedanken. Alles was du zurückgelassen hast, bin ich.

Und ich hasse es. Doch ich weiß, ich kann es nicht mehr ändern.

Depressions-TagebuchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt