Kapitel 6

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Die Todeskammer war heute genauso faszinierend, wie noch vor einer Woche. Izar sog den Anblick, die Atmosphäre, mit großen, kritischen Augen in sich auf. Es spielte keine Rolle, dass er nicht allein war, so gefesselt war er von dem Torbogen am Boden der Grube.

Seine Schritte waren gleichmäßig, wirkten geübt, als er die Ränge hinunter in die Grube stieg. Sobald er sich den Rhythmus der abwärtsführenden Stufen eingeprägt hatte, verließen seine Augen den Schleier kein einziges Mal.

Und dann musste sie unterbrechen.

„Du kehrst nächste Woche nach Hogwarts zurück, nicht wahr? Ins fünfte Jahr?"

Er wollte in vernichtendem Ton antworten, warum sie, wenn sie doch schon wusste, wann er wieder ging, überhaupt fragen musste. Stattdessen gab er ein lippenloses Summen von sich, die Augen auf ihren Hinterkopf gerichtet. „Ins sechste Jahr, aber ja, ich kehre am Montag zurück."

Bevor sie die letzte Treppenstufe erreichten, warf sie ihm einen verwirrten Blick zu. Es war schummrig hier unter und doch konnte Izar die Unentschlossenheit erkennen. „Du gehst in den sechsten Jahrgang? Dabei dachte ich, du wärst gerade erst Fünfzehn geworden." Sie wusste, wann sein Geburtstag war. Heute. Dennoch versuchte sie zu verbergen, dass sie das genaue Datum wusste. Warum das Offensichtliche verbergen? Sie musste in seinen Akten geschnüffelt haben.

Er warf ihr einen kalten Blick zu, drängte sich an ihr vorbei und trat näher an das erhöhte, steinerne Podest heran. Aus der Nähe sah der Torborgen nur noch prächtiger aus. Der Stein zerbröckelte, als hätte er sein Höchstalter überschritten. „Ich habe ein Jahr übersprungen.", antwortete Izar, ohne die Rothaarige anzuschauen. „Nun dann, wobei brauchen Sie meine Hilfe? Was das betrifft..." Izar hielt inne und drehte sich um, um einen Blick auf ihre nähernde Form zu werfen. „Machen die Unsäglichen in dieser Kammer irgendwelche Entdeckungen? Ich würde denken, dass sie bei dem Schleier nicht allzu viel Spielraum haben."

„Das ist wahr.", begann sie. „Die meisten von uns arbeiten nicht durchgehend in der Todeskammer. Das ist gar nicht nötig. Der Schleier sucht sich die Personen, die ihn auskundschaften dürfen, selbst aus. Bis jetzt wurde nur allgemeines Wissen über den Schleier geborgen..." Ihre Stimme verstummte unsicher, während sie Izar beobachtete.

Izar, dessen Aufmerksamkeitsspanne zur Hälfte ihr und zur anderen Hälfte dem Schleier gewidmet war, fühlte sich wie gebannt. Ein raues, dumpfes Flüstern streichelte seine Ohrmuschel, kitzelte seine Sinne und holte sich seine volle Aufmerksamkeit ein. Seine Zunge wagte sich hinaus, befeuchtete die kalten Lippen, während er sich dem flatternden Schleier einen weiteren Schritt näherte. „Izar...", krächzte Lily, der Verzweiflung nahe und doch konnte er einen Hauch von Bestätigung heraushören, fast so, als hätte sie diese Art der Reaktion von Izar erwartet, gar befürchtet. „Bitte, tritt zurück."

Selbst wenn er ihre Warnung, ihr Flehen gehört hätte, konnte er nichts anderes tun als zuzusehen, hypnotisiert, wie der Schleier in Eifer bebte. Es schien fast so, als ob der zerrissene, abgenutzte Schleier von unsichtbaren Fingern liebkost würde.

In seinem schwammigen Zustand hob Izar die Finger, streckte sie in Richtung des Schleiers. Sogar er wusste, dass man bei physischem Kontakt mit dem Schleier auf die andere Seite gezogen wurde. Es gab kein Zurück mehr. Das Wissen hielt ihn auch nicht davon ab. Seine Finger strichen zitternd über den Schleier, begleitet von einem verzweifelten Schrei seitens Lily. In den wenigen Sekunden, in denen Izar den Schleier berührte, bestaunte er dessen Weichheit, wie seidig er sich anfühlte; fast wie Wasser, das zwischen seinen Fingern hindurchfloss. Und es war kalt. Bitterkalt.

Er wurde von dünnen Armen umschlossen, die ihn brutal vom Schleier wegrissen. „Was hast du dir dabei gedacht?" Hysterische grüne Augen drängten sich in sein Blickfeld und Izar blinzelte dümmlich. Gerade strahlten sie eine Lebendigkeit aus, die er zuvor noch nie gesehen hatte. „Du kennst die Konsequenzen, wenn du dem Schleier zu nahekommst." Sie nahm ein paar tiefe Atemzüge, die über sein Gesicht fegten, ehe sie zögerlich von seinen Schultern abließ. „Viele Männer und Frauen sind dem Wahnsinn anheimgefallen, als sie vor dem Schleier standen. Sie behaupten, ihre verstorbenen Angehörigen auf der anderen Seite gehört zu haben, wie sie versuchten, sie hinüberzulocken. In den meisten Fällen überquerte das Opfer die Barriere, nur um dann nie wieder gesehen zu werden."

„Das weiß ich.", flüsterte Izar, versucht, seine Rationalität zurückzugewinnen, nach dem Schock, den er erlitten hatte. „Aber eine Frage bleibt bestehen...", begann er, verengte die Augen und fokussierte Lily wie ein Raubtier, dass seine Beute auserkoren hatte. „Wie war ich imstande, das Flüstern zu hören, wenn ich dem Tod noch nie begegnet bin? Wenn ich niemanden kenne, der verstorben ist? Dennoch zog es mich auf die andere Seite. Wie kommt das?"

„Ich weiß es nicht." Ihr Ton verdunkelte sich, während rotbraune Strähnen ihr Gesicht bedeckten. Er durchschaute ihre Lüge sofort.

„Lügnerin.", zischte Izar und ballte die Fäuste. „Sie haben mich aus einem bestimmten Grund hierhergebracht, nicht wahr? Nicht, um Ihnen bei Ihrer Arbeit zu helfen." Er stockte und sein Verstand suchte nach der plausibelsten Antwort. „War ich eine Art Versuchsperson für Sie? Ich muss schon zugeben, dass war ein brillanter Plan von Ihrer Seite aus. Mich zu Ihrem eigenen Vergnügen, Ihrer eigenen Studie hierherzulocken.", beschuldigte Izar sie, ein verzerrtes Grinsen im Gesicht.

„Raus hier." Die Aura der Rothaarigen strahlte plötzlich Kälte aus. Ihre grünen Augen leuchteten fuchsteufelswild, während sie eine Skeletthand hob und auf den Ausgang zeigte. „Raus hier und komm' nie, nie wieder hierher zurück." Er trat näher und starrte sie an. Sie war nur um wenige Zentimeter kleiner als er, doch fühlte er sich riesig im Vergleich zu ihrer kümmerlichen Gestalt. „Mit Vergnügen.", antwortete er kalt, drehte ihr die Schulter zu und stieg anmutig die Treppen hinauf.

Es war ein längerer Weg bis zum Ausgang und inzwischen setzte wieder Ruhe bei ihm ein. Die Chancen standen gut, dass er Lily Potter als Laborratte gedient hatte. Möglicherweise hatte sie zuvor am Schleier experimentiert und wollte es nun an lebenden Menschen testen, um potentielle Auswirkungen niederschreiben zu können. Aber er gab auch zu, dass die Möglichkeit bestand, dass sie ihn gar nicht als persönliches Versuchskaninchen missbrauchen wollte. Ihre erhitzte, angegriffene Reaktion, die folgte, nachdem er sie beschuldigte, wies auf ihre Unschuld hin.

Aber...

Izar blickte auf seine Hände herab.

Das erklärte nicht, warum sich seine Fingerspitzen schwarz gefärbt hatten und noch immer kribbelten. 

Death of Today | ÜbersetzungWhere stories live. Discover now