𝒦𝒶𝓅𝒾𝓉ℯ𝓁 ℰ𝒾𝓃𝓈

354 11 230
                                    

Montag, 9. Juli

Seonghwa

Ich bin kein New Yorker und ich will nach Hause.

In New York gibt es so viele ungeschriebene Regeln.
Niemals mitten auf dem Gehweg stehen bleiben zum Beispiel, niemals verträumt an einem Wolkenkratzer hochschauen und niemals in Ruhe ein Graffiti lesen.
Straßenkarte, Bauchtasche, Blickkontakt - verboten.
In der Öffentlichkeit vor sich hin singen, selbst wenn es was aus Dear Evan Hansen ist - verboten.
Und unter gar keinen Umständen, selbst wenn dieser Hotdog-Stand vor den gelben Taxis ein fast schon unheimlich typisches New-York-Bild abgibt, darf man an einer Straßenecke Selfies schießen.
Beiläufig wertschätzen - das ist erlaubt, aber dabei immer schön cool bleiben.
Soweit ich es beurteilen kann, ist das sowieso am aller wichtigsten hier.
Coolness.

Ich bin nicht cool.

Jetzt gerade, zum Beispiel.
Jetzt gerade habe ich den Fehler gemacht, einen Blick in den Mittagshimmel zu werfen, und nun kann ich mich nicht mehr losreißen.
Aus dieser Perspektive scheint die Welt nach innen zu kippen.
Schwindelerregende Hochhäuser, gleißende Feuerballsonne.

Wunderschön.
Das muss ich New York zugutehalten.
Es ist wunderschön, surreal und kein bisschen wie Georgia.
Für ein schnelles Foto richte ich mein Handy nach oben.
Ohne Hashtag, ohne Filter, ohne viel Aufhebens.

Nur ein einziges schnelles Foto.

Keine Millisekunde später trifft mich die geballte Wut des Passantenstroms.
Oh Gott.
Mach hin.
AUS DEM WEG! 
Scheißtouristen.
Ernsthaft - zwei Sekunden Fotografieren und schon bin ich die Ausgeburt der Störung im Betriebsablauf.
Ich bin jede Bahnverspätung, jede Straßensperre, ja ich bin sogar der bloße Gegenwind.

Scheißtouristen.

Dabei bin ich nicht mal Tourist.
Sondern wohne quasi hier, zumindest einen Sommer lang.
Und gebe mich also mitten im geschäftigen Montagstreiben auch nicht etwa müßigem Sightseeing hin.
Ich arbeite.
Na ja, ich wurde zu Starbucks geschickt, aber das zählt.

Und ja, vielleicht nehme ich den extralangen Weg.
Vielleicht brauche ich noch ein paar Minuten, bevor ich in Moms Büro zurückkehre.
Meist ist das Praktikum ja eher langweilig als schlimm, aber heute lief's einfach beschissen.
Einer von diesen Tagen halt, an denen der Drucker neues Papier braucht und im Materialraum keins mehr ist, weswegen man welches aus dem Kopierer klauen will, dessen Schubfach aber nicht aufgeht und man dann den falschen Knopf drückt und das Ding wie wild zu piepen anfängt.
Dann steht man da und denkt sich, dass, wer auch immer den Kopierer erfunden hat, eigentlich einen Arschtritt verdient.
Verdient, getroffen zu werden von der rasenden Wut eines jüdischen Teenagers mit ADHS, der nicht weniger als einen Meter siebenundsechzig misst.
Einer von diesen Tagen.

Schon seit ich losgegangen bin, will ich San und Jisu mein Leid klagen, habe aber immer noch nicht den Dreh raus, wie ich Nachrichten schreiben soll, ohne stehen zu bleiben.

Deswegen steuere ich jetzt die Eingangstreppe eines Postamtes an und - wow.
Postämter wie das hier gibt es in Milton nicht.
Schneeweiße Fassade, steinerne Säulen, Messingverzierungen.
Bei all dieser Eleganz komme ich mir fast schon underdressed vor.
Dabei trage ich heute sogar eine Krawatte.

Ich schicke San und Jisu das Sonne-und-Hochhäuser-Bild.
𝙷𝚊𝚛𝚝𝚎𝚛 𝚃𝚊𝚐 𝚒𝚖 𝙱𝚞̈𝚛𝚘!

Jisu schreibt augenblicklich zurück.
𝙸𝚌𝚑 𝚑𝚊𝚜𝚜𝚎 𝚍𝚒𝚌𝚑 𝚞𝚗𝚍 𝚠𝚒𝚕𝚕 𝚍𝚞 𝚜𝚎𝚒𝚗.

What if it's us? //a Seongjoong Story//Where stories live. Discover now