1 - Trip in die Freiheit - Teil 1

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„Oh Cherie, du musst dir schon etwas me'r Mü'he geben!", dozierte Jean. „Du kannst nischt durch die Gägend 'umpeln wie eine alte Oma!"

Lucy stöhnte: „Jean, nach zwei Stunden Tanztraining kann ich nicht mehr rumhüpfen und gleiten wie ein junger Schwan!"

„Cherie, isch wäre glücklisch, wenn du nur ein bisschen me'r majestätisch ausse'en würdest! Im Momo erinnerst du misch eher an eine Pinguin!", erwiderte der muskulöse Tanzlehrer.

„Alors, beweg deine Hintern und mach die Choreografie von vorne!", ordnete er an.

Stöhnend erhob sich Lucy nochmal. Sie wusste, Jean ließ keine Einwände gelten und sie stellte sich in Position.

Der Tanzlehrer wandte sich der Musikanlage zu, startete den Song und meinte: „Et un, deux, trois ..."

Lucy ließ sich vom Rhythmus des Songs gefangen nehmen und wiederholte die eingeübte Tanzfolge mechanisch. Ihre, zum Dutt geformten, blonden Haare kräuselten sich feucht, wo sich einige Strähnen gelöst hatten. Der Schweiß rann in Sturzbächen von ihr. Sie schaffte es, nicht an ihre brennenden Füße und die verspannten Schultern zu denken, und beendete ihre Tanzschritte. Schwer atmend sah sie zu Jean. Der sah alles andere als zufrieden aus und ihre Schultern sackten nach vorne.

„Cherie, das ist tanzen und nischt wie eine aufgescheuchte Vogel mit den Flügeln und Beinen schlagen! Und das Wichtigste: Läscheln! Wie soll dir deine Publikum die Leischtischkeit abkaufen, wenn du so eine verkniffene Gesischt machst? Wie sollen disch die Leute, die Karten für ein Konsert gekauft 'aben sympathisch finden, wenn du ihnen nischt seigst, wie freundlisch du bist? Oh mon dieu! Wie soll isch dir das nur begreiflisch machen?", machte Jean seinem Unmut Luft.

„Alors, isch 'abe genug für 'eute!", winkte er unwirsch ab und entließ Lucy.

Diese zuckte die Schultern und machte sich auf den Weg zu den Duschen. Dort angekommen, streifte sie ihr Trikot sowie die Unterwäsche ab, und stellte sich ächzend unter die kalte Dusche. Japsend drehte sie das Wasser wärmer und genoss das reinigende Gefühl auf ihrer Haut. Nachdem sie den Knoten aus ihren Haaren gelöst hatte, ergoss es sich in sanften Wellen über ihren Rücken. Sie shampoonierte sich ein und freute sich über den wohligen Geruch und die massierenden Wasserstrahlen. Dann trat sie aus der Dusche und rubbelte sich mit langsam kreisenden Bewegungen trocken, damit ihre Blutzirkulation wieder in Gang kam. Auf eine Bodylotion verzichtete sie achselzuckend in dem Wissen, dass Jean bestimmt schon ihre Mutter und damit ihre Managerin informiert hatte und diese auf dem Weg zu ihr war. Gerade als sie den Gedanken zu Ende gebracht hatte, erschien eine kleine, rundliche Person mit brünetten Pagenschnitt in der Tür.

„Lucy, bist du denn immer noch nicht fertig? Nun komm schon, beeil dich, wir haben heute noch weitere Termine!"

Mit einem Blick auf die Uhr verließ ihre Mutter ohne weiteres Wort die Umkleidekabine. Lucy zog sich an und föhnte sich so schnell es ging ihr langes, honigblondes Haar. Ihr Aussehen hatte sie von ihrem Vater geerbt.

‚Oh, Daddy!', schoss es ihr durch den Kopf und Tränen standen ihr in den Augen, während sie ein scharfer Schmerz durchzuckte.

Vor sechs Monaten starb ihr Vater. Von einer Minute zur anderen war er einfach in sich zusammengesunken. Als der Krankenwagen kam, konnte der Notarzt nur noch den Tod feststellen. Gehirnblutung war sein Urteil. Lucy nahm sich schnell zusammen und schaute nochmal prüfend in den Spiegel. Grüne Augen blickten ihr entgegen. Grüne Seen hatte ihr Vater immer gesagt. Was würde sie tun, nochmal in seine Augen sehen zu können? Aber das war nicht mehr möglich, mahnte sie sich und schob absolute Fassungslosigkeit und Trauer beiseite. Damit konnte sie sich nicht befassen.  Das ließ ihr Tagesablauf nicht zu, sagte sie sich und verließ die Umkleide. Ihre Mutter wartete schon ungeduldig im Wartebereich, unruhig in einer Zeitschrift blätternd. Als sie Lucy auf sich zukommen sah, sprang sie auf, musterte sie von Kopf bis Fuß und nickte dann.

Soundtrack des Herzens - IntroWhere stories live. Discover now