1 - Neue Ufer

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Yuki Leclerc stand im Ankunftsbereich des Flughafens Berlin-Tegel und war genervt. Warum musste ausgerechnet sie den alten Mann abholen und die nächsten drei Wochen Babysitter für ihn spielen? Natürlich wusste sie die Antwort darauf und es spielte keine Rolle, ob sie ihr gefiel oder nicht. Unliebsame Aufgaben wälzte man nun einmal gern auf das neueste Mitglied im Team ab. Dieses musste sich ja erst noch beweisen. Und da sie, Yuki, nach Abschluss des Studiums in digitaler Forensik nahtlos eine gut bezahlte Anstellung in der noch neuen europäischen S.H.I.E.L.D-Niederlassung in Berlin gefunden hatte und erst wenige Wochen dabei war, wunderte es sie nicht, dass es sie getroffen hatte. Das Anfangsgehalt war mehr als üppig und sie träumte schon lange davon, böse Jungs mit Hilfe von Bits und Bytes zur Strecke zu bringen. Das nicht nur bei der Polizei tun zu können, sondern für einen nicht mehr ganz so geheimen Geheimdienst auf internationaler Ebene, war eine einmalige Gelegenheit. Dafür würde sie sich eben mit diesem Auftrag abfinden müssen.

Es hörte sich auch nicht nach viel Arbeit an, einen Captain Steve Rogers vom Flughafen abzuholen, ihn auf offiziellen Empfängen im ganzen Land zu begleiten und zu dolmetschen. Leicht verdientes Geld also - aber es hörte sich auch absolut öde an. Wie viel lieber wäre sie jetzt, nach einer kurzen Eingewöhnungszeit, durchgestartet und täte, worin sie unschlagbar gut war: Terroristen und andere zwielichtige Gestalten durch deren digitale Spuren im Netz zu überführen. Schließlich hatte sie ihren Abschluss nicht umsonst als eine der besten ihres Jahrgangs gemacht! Doch als Frischling würde sie einfach ihren Ärger herunterschlucken und diesen Job so gut wie möglich erledigen. Karriere konnte sie danach immer noch machen. Als ehrgeizige Absolventin und überzeugte Single-Frau hatte sie sich dafür schon einen Plan zurechtgelegt. Aber zuerst muss ich meinen ersten Auftrag zu Ende bringen, dachte sie, und hielt weiter mit einer Hand lustlos das Pappschild mit dem Namen ihres neuen Schützlings in die Höhe, während sie sich mit der anderen auf den faltbaren Rollstuhl stützte, den sie für alle Fälle mitgebracht hatte. Ebenso wie ein kariertes Plaid, das der Mann sich auf die Knie legen konnte, falls ihm kalt wäre. Yuki klopfte sich in Gedanken auf die Schulter: Sie war gut vorbereitet. Denn laut Akte war Captain Rogers dreiundneunzig Jahre alt und daher vermutlich nicht gut zu Fuß.

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Steve Rogers hatte den ganzen Flug über gegrübelt und damit gehadert, dass er in dieser Maschine Richtung Deutschland saß. Welches nur eine Etappe einer Europa-Tour darstellte, die Direktor Fury für ihn hatte zusammenstellen lassen. Natürlich hatte Direktor Fury ihm lang und breit erklärt, weshalb diese Reise notwendig war. Angefangen mit guter PR dadurch, dass Captain America sich am Ende weltweit vorstellte, und endend mit der Notwendigkeit, das politische Weltgefüge zu verstehen, das nach 70 Jahren Schlaf ein anderes war, als Steve es kannte. Steve hatte Furys Plädoyer auch plausibel gefunden. Doch nun, wo er sich im Flieger befand, der ihn in Feindesland bringen sollte, stellte er wieder alles in Frage. Er wusste, dass die USA sich nicht mehr im Krieg mit Deutschland befanden. Dass das Dritte Reich nicht mehr existierte und dass sich neue Allianzen gebildet hatten und ebenso neue Feinde das Spielfeld betreten hatten. All das hatte er ja in mehreren Seminaren kurz nach seinem Erwachen erfahren. Doch vermutlich hatte der Leiter von S.H.I.E.L.D recht damit, dass das theoretisch erworbene Wissen Steves tiefverwurzelte Feindseligkeit gegenüber dem jetzigen NATO-Bündnispartner nicht ganz hatte auflösen können. Beide, sowohl Fury als auch Captain America waren sich bewusst, welches Ereignis eigentlich dazu geführt hatte, dass der Plan zu dieser „Bildungsreise" gereift war und nun umgesetzt wurde, auch wenn es keiner der beiden laut gesagt hatte.

Steve hätte den Vorfall am liebsten ungeschehen gemacht oder vergessen, doch beides war nicht möglich. Er hatte beinahe jemanden umgebracht. Jemanden, der sich nichts weiter hatte zu Schulden kommen lassen, als den legendären, aus dem Eis wiedergekehrten Nationalhelden Amerikas kennenlernen zu wollen. Steve hatte sich im S.H.I.E.L.D-eigenen Fitnessstudio gerade auf die Hantelbank gelegt, als sich plötzlich Fury und ein ihm unbekannter Mann näherten. Beide unterhielten sich auf Deutsch und Steve dachte noch, dass Fury immer für eine Überraschung gut war. Doch dann hörte er den anderen Mann antworten und erkannte sofort, dass dieser Deutsch als seine Muttersprache sprach. Und er sah rot. Vergessen war Hydra, die feindliche Geheimorganisation, die er zuletzt bekämpft hatte. Er brannte darauf, diesem Nazi alles heimzuzahlen: den Tod von Millionen Soldaten und Zivilisten, aber vor allem den Tod seiner Eltern. Zugegebenermaßen war seine Mutter an Tuberkulose gestorben, doch Steve war der festen Überzeugung, dass sie überlebt hätte, wäre der Ernährer der Familie nicht eines sinnlosen und grausamen Todes gestorben, nur wegen eines machtgierigen deutschen Kaisers. Für ihn waren die Deutschen die Verkörperung des Bösen, dicht gefolgt von Hydra.

Er hatte den Mann im Bruchteil einer Sekunde niedergeschlagen und prügelte mit einer Hantelscheibe auf ihn ein. Er hätte ihn wohl umgebracht, wenn nicht das von Fury eilig herbeigerufene Sicherheitsteam ihn überwältigt und mit einem hoch dosierten Betäubungsmittel außer Gefecht gesetzt hätte. Der Vorfall hätte auch so schon zu Verwerfungen zwischen S.H.I.E.L.D und den Vereinten Nationen geführt. Doch unglücklicherweise handelte es sich bei dem armen Mann auch noch um einen deutschen Botschafter. Zwar hatte Fury die Wogen einigermaßen glätten können, indem er darauf hinwies, dass Steve sich nach seinem plötzlichen Erwachen aus dem langen Dornröschenschlaf in einer psychischen Extremsituation befand, doch mit einer einfachen Entschuldigung war es nicht getan. Da half es auch nicht, dass ein Psychiater dem Ausschuss erklärte, bei Steve sei ein Trigger ausgelöst worden, und er könne mit professioneller Hilfe lernen, mit durch ähnliche Reize verursachten negativen Gefühlen umzugehen. So saß er nun hier und flog Businessclass in die Hauptstadt des einstigen Feindes und hatte Furys Abschiedsworte noch im Ohr. „Und bitte benehmen Sie sich!"
Die Maschine senkte sich im Landeanflug auf den Berliner Flughafen und Steve schreckte aus seinen trüben Gedanken auf. Als sich alle Passagiere abschnallten und ihr Handgepäck aus den Staufächern holten, hatte er sich bereits wieder gefasst und machte sich auf den Weg zur Gepäckausgabe.

Suche Held, biete Phönix (FF Captain America - Steve Rogers - OC)Where stories live. Discover now