Kapitel 22

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Steve saß auf dem Hotelbett und hatte Yuki im Schneidersitz vor sich. Sie hatten Sakamotos Mappe vor sich ausgebreitet. Sie schien seine Nähe zu brauchen, um sich dem zu stellen, was noch in diesen losen Blättern verborgen war, denn sie hatte ihren Rücken fest gegen seine Brust gedrückt, während sie sie einzelnen auslegte. „Du siehst aus wie sie...", hatte Sakamoto gesagt. Und er hatte nicht gelogen. In dem Moment, als ihre Blicke auf die Polizeifotos fielen, die Akiko mit einem Namensschild in Händen vor einer Höhenskala zeigten, fühlte er wie Yuki sich versteifte. Und auch er konnte einen Schauder nicht unterdrücken.

Es waren grobkörnige Polizeibilder, je eines frontal, im Profil und eines als Porträt, von denen Steve ein vertrautes und lieb gewonnenes Gesicht entgegenstarrte. Trotz kleiner Unterschiede erkannte auch sie sich selbst darin, denn sie berührte wie in Trance ihre eigene Schläfe und folgte mit den Fingern der Linie ihrer Wangen bis hinunter zum Kieferknochen. Steve schwieg und strich ihr beruhigend über den Nacken, während sie in die Betrachtung ihres anderen Ichs vertieft war.

Das Jochbein der Tochter war etwas höher angelegt, doch der sture, kämpferische Schwung des Kinns war der gleiche. Auch der Augenpartie nach war sie unverkennbar ihrer Mutter Kind, nur standen ihre etwas weiter auseinander und wirkten größer, weil die charakteristische einfache Lidfalte nicht sehr ausgeprägt war. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, fragte sie abwesend: „Wer wohl mein biologischer Vater war? Vielleicht will ich das auch gar nicht wissen, könnte auch nur ein anonymer Samenspender sein und ein furchtbarer Mensch." Steve dachte bei sich, dass das durchaus im Rahmen des Wahrscheinlichen lag, schwieg jedoch taktvoll.

In Akikos Augen fiel ihm noch eine weitere Ähnlichkeit auf: trotz der Erschöpfung und dem verängstigten Ausdruck in ihnen konnte er dieselbe innere Stärke erkennen, die ihm auch bei seiner Yuki aufgefallen war. Er lächelte der unbekannten Frau auf dem Foto zu und dankte ihr lautlos dafür, dass sie ihrer Tochter neben einem angenehmen Äußeren diese eine überlebenswichtige Eigenschaft vererbt hatte. Es war nur tragisch, dass sie am Ende doch gebrochen worden war, sei es durch den Verlust ihres Kindes oder die Umstände in der Nervenheilanstalt. Bei aller Stärke, war irgendwann ein Punkt erreicht, an dem auch die stärkste Person nicht mehr weitermachen konnte. Er würde in der nächsten Kirche, die er aufsuchte, eine Kerze für Akiko anzünden. Es mochte ein sinnloser und abergläubischer Akt sein, doch er hatte das Gefühl, dies tun zu müssen.

Als sie im Folgenden die Protokolle durchgingen, musste er sich manches Mal beinahe übergeben. Da war von hunderten von ‚Probandinnen' die Rede, Frauen, meist in den Zwanzigern, die aus unterschiedlichsten Lebenssituationen heraus entführt worden waren. Die wie Tiere in kleinen Zellen gehalten und nur zu ihren Testreihen herausgelassen wurden. Akiko erzählte von einer großen Fluktuation, denn manches Mal kehrten die Frauen nicht wieder in ihre Zellen zurück, und wurden kurzfristig von ‚Frischfleisch' ersetzt. Es gab Zellennachbarinnen, die die um ihre Babys weinten, die missgebildet auf die Welt gekommen und als nutzlos entsorgt worden waren. Auch Frauen, die nicht schwanger wurden, verschwanden nach einpaar Monaten spurlos, und Akiko beschrieb, dass sie das Schlimmste befürchtete.

So viele Schicksale endeten ihrer Erzählung nach in diesem unterirdisch gelegenen Labor. Steve fröstelte es, und er spürte das Echo seines eigenen Entsetzens in Yukis angespannten Schultern. Er hielt sie fester umschlungen und murmelte belanglose Nichtigkeiten in ihr Haar. Selbst wohl formulierte tröstende Worte, wären nicht zu ihr durchgedrungen, da war er sich sicher. Seine bloße Anwesenheit und seine Stimme mussten reichen, um sie zu beruhigen.
Und an ihrem ruhiger werdenden Atem erkannte er, dass es ihm gelang.

„Warum gehst du nicht in den Meiji-Park, da kannst du richtig durchatmen", schlug er vor, als sie ihre Fassung zum Teil wieder erlangt hatte. Der Park war ihm während er ersten Tage hier als einer der wenigen Orte in Erinnerung geblieben, die einen willkommenen Gegensatz zum übrigen Tokio bildeten. Eine Zäsur im dem ständigen Blinken der Neon-Leuchten und der permanenten Beschallung. Dort würde sie den nötigen Abstand gewinnen und so wieder einen freien Kopf bekommen. So wie er sie kennengelernt hatte, konnte sie das am besten allein.

Suche Held, biete Phönix (FF Captain America - Steve Rogers - OC)Where stories live. Discover now