Kapitel 60

14.7K 1.1K 143
                                    

"Was hat das zu bedeuten?" fragte ich stotternd, wobei ich die Antwort schon wusste. Doch mein Gehirn wollte es nicht wahr haben, egal wie oft ich mir die Daten auf der Urkunde durchlas. "Dein Dad hat anscheinend noch ein weiteres Kind, einen Jungen. Glaubst du, könnte es möglich sein, dass Nathan das ist?"

Energisch schüttelte ich den Kopf. "Nein, nie im Leben. Mein Dad hatte keine weiteren Kinder. Ich wüsste doch, wenn ich ein Geschwisterchen hätte. Er würde mir so etwas nicht verheimlichen. Nein, ganz sicher nicht. Das hätte Dad nie getan" sagte ich, wobei die Verzweiflung in meiner Stimme deutlich zu hören war, und blickte zu Harry, der mich mitfühlend ansah. "Bist du dir ganz sicher?" 

"Ich-ich..."stotterte ich erneut, brach dann aber ab. Ich wüsste es doch, wenn ich einen Bruder hätte. Auch wenn er nur mein Halbbruder war, hätte Dad es mir gesagt. Vor allem konnte ich mir nicht vorstellen, dass Dad ihn verstoßen hätte. Er war für mich der perfekte Vater, hat jede freie Minute mit mir verbracht und war immer für mich da. Er war ein so liebevoller Vater zu mir, dass ich es mir nicht einmal im Traum vorstellen konnte, dass er sein eigen Fleisch und Blut verstoßen und verheimlichen würde. So war Dad nicht.

"Dad hätte mir das nicht verheimlicht, ganz sicher nicht." versuchte ich selbstsicher zu sagen, was aber nicht wirklich gut funktionierte, denn meine Stimme brach zum Ende leicht weg. Der Gedanke, dass ich wirklich mit Nathan verwandt war, war es nicht, der mir Angst machte, sondern dass ich das Gefühl hatte meinen eigenen Vater nicht gekannt zu haben. Ich weiß, ich war noch relativ jung, als ich meine Eltern verloren habe, trotzdem hatte ich ein bestimmtes Bild von ihnen. Gerade fühlte es sich aber an, als würde das Bild, das ich von meinem Vater hatte, in tausend Stücke zerspringen.

Er hatte mir immer gesagt, ich sollte ehrlich sein. Und jetzt erfuhr ich, dass ausgerechnet er mir einen Bruder verheimlicht hatte. Bevor ich weiter denken konnte, kam mir ein anderer Gedanke in den Sinn. Wusste meine Mutter davon? Wusste sie, dass ich ein Geschwisterchen hatte, und hat es mir ebenfalls verheimlicht? Wie konnte sie Dad erlauben, es mir vorzuenthalten?

Mein Kopf begann zu brummen von all den Dingen, die mir gerade durch den Kopf schwirrten. "Stella, ich weiß, das ist gerade schwer für dich, aber-"  "Es ist nicht schwer, es ist unvorstellbar." unterbrach ich Harry lauter als beabsichtigt, woraufhin ich mich gleich darauf entschuldigte.

"Abgesehen von der Tatsache, dass ich einen Halbbruder haben soll, kann ich nicht glauben, dass Nathan es ist. Das ist doch absurd, Harry. Er quält mich seitdem ich auf derselben Schule bin wie er. Nate tut mir weh und stellt mich am liebsten vor allen bloß. Wer würde so etwas seiner eigenen Schwester antun? Außerdem hat er nie etwas Derartiges erwähnt und er hat auch einen anderen Nachnamen, als die Frau auf dem Dokument."   "Hat er dir jemals einen Grund gegeben, warum er dich so behandelt?" fragte Harry, woraufhin ich verneinte. "Siehst du. Vielleicht war er doch nicht ganz so grundlos gemein zu dir, wie du dachtest. Auch wenn das niemals rechtfertigen würde, dich so zu behandeln." sagte Harry und versuchte mich aufzubauen, doch in mir herrschte das reinste Chaos.

Ich wusste weder was ich mit dieser neu gewonnen Information tun sollte, noch wie ich darauf reagieren sollte und ob ich es überhaupt glauben konnte. "Harry, ich will einfach nur noch zurück nach Hause." Am liebsten würde ich die letzten Stunden, am besten den ganzen Tag, einfach ungeschehen machen. Mir war es lieber, dass Nathan mich grundlos so schlecht behandelte, als zu wissen, dass mein Halbbruder mich so behandelte und mein Vater nicht der war für den ich ihn gehalten habe. Harry sah wohl, wie fertig ich war, denn er nickte ohne Fragen zu stellen. "Komm gehen wir."

Harry P.o.V.

Mein Blick huschte kurz zur schlafenden Stella neben mir. Den Kopf hatte sie gegen die Fensterscheibe gelehnt, die Beine leicht angezogen und die Lippen einen Spalt breit geöffnet. Sie war sofort nachdem wir losgefahren sind, eingeschlafen und seitdem nicht mehr aufgewacht, so erschöpft war sie. Ich wünschte, ich könnte ihr irgendwie helfen, aber was konnte ich schon machen? Höchstens sie etwas ablenken, aber früher oder später würde sie wieder daran denken, dass sie einen Halbbruder hatte, der ihr Jahre lang verheimlicht wurde.

ScarfaceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt