Elf

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Blinzelnd öffne ich die Augen, mein Kopf dröhnt leicht.
Zwar hatte ich heute keinen Alptraum, aber dennoch kam ich die ganze Nacht nicht über einen unruhigen Schlaf hinaus, auch wenn ich Erholung gut gebrauchen könnte.
Ich greife seufzend nach der Flasche neben meinem Bett, wobei mein Blick auf den Verband an meiner Hand fällt, der die Wunden, die durch die Scherben entstanden sind, verdeckt.
Langsam lasse ich mich ins Kissen zurücksinken. Die Hand die jetzt die Flasche hält, lasse ich zurück an meine Seite fallen. Wieder sehe ich die entsetzten Blicke des gesamten Chemie-Kurses vor mir und die Flammen, die aus den Scherben mit meinem Blut züngeln. Alle haben es gesehen. Ich verfluche mich noch immer dafür, dass ich es nicht kontrollieren konnte. Gott sei Dank hatte Mr. Wade nicht lang gebraucht, ehe er eine mögliche Erklärung gefunden hatte, die besagte, dass in dem Reagenzglas noch Rückstände von vorherigen Experimenten waren, die dann diese Reaktion ausgelöst hatten. Natürlich war das Schwachsinn, doch niemand hatte eine bessere Erklärung, also nahmen es alle Schüler mehr oder weniger so hin.
Nur Amber und ich wussten es besser. Wir wussten, dass es keine Rückstände von früheren Experimenten gab.
Ich hatte mit ihr am Nachmittag noch einmal telefoniert und ihr das von Mittwochabend erzählt, wie das Blatt mit meinem Blut Feuer gefangen hatte, als ich wütend wurde.
Auch wenn alle das mit den Rückständen geglaubt haben, war es ein seltsames Gefühl am nächsten Tag, durch die Gänge zu gehen, als wäre nichts gewesen.
Zum Glück ist jetzt Samstag. Das heißt ich hab zwei Tage für mich, um endlich mal zu entspannen, auch wenn ich das Gefühl habe, dass das in letzter Zeit nicht möglich ist.
Ich seufze und nehme nun endlich einen Schluck aus der Wasserflasche in meiner Hand, ehe ich sie wieder auf dem Nachttisch abstelle.
Gerade als ich mich zurück ins Kissen sinken lassen will, wird meine Tür leise geöffnet. In dem sanften Licht, was durch die halb geschlossenen Jalousien hereindringt, kann ich die braunen Locken meines Bruders ausmachen und runzele leicht die Stirn. »Was machst du hier?«,frage ich verwirrt, mit einem Seitenblick auf meinen Wecker, der gerade mal Neun Uhr zeigt.
Yesko schließt erst die Tür wieder hinter sich, ehe er eine Augenbraue in meine Richtung hochzieht und zum Bett herüberkommt.
»Welcher Tag ist denn heute?«,antwortet er mir mit einer Gegenfrage und schiebt sich zu mir unter die Bettdecke. Ich stöhne auf.
»Keine Ahnung, Yesko!«,meine ich ratlos und versuche mich zu erinnern, was heute für ein Datum sein müsste.
»Es ist der 20. Juni«,hilft er mir schmunzelnd auf die Sprünge. Mein Gesicht verzieht sich zu einer nachdenklichen Miene, bevor es mir einfällt. Yesko lacht über meine späte Erkenntnis.
»Happy Birthday«,meint er grinsend.
»Lach nicht«,murre ich und stoße ihm in die Seite, auf meinen Lippen liegt allerdings ein leichtes Lächeln. Er grinst nur.
»Alles Gute zum Siebzehnten«,entgegne ich und lasse mich dann zurück auf meine Seite des Bettes sinken. Das war's dann wohl doch mit einem ruhigen Wochenende.
»Seit wann vergisst du unseren Geburtstag?«,fragt Yesko, während er sich bequemer hinlegt. Es ist schon seit ich mich erinnern kann eine kleine Tradition, das Yesko an unserem Geburtstag morgens zu mir kommt.
Ich seufze.
»In letzter Zeit ist alles ein wenig kompliziert, ich weiß zur Zeit gar nichts mehr.«
»Bill?«,hakt mein Bruder nach und ich kann nicht anders als genervt mit den Augen zu rollen.
»Es hat nicht alles mit Bill zu tun!«
»Letztes Mal hatte es das«,widerspricht er und hat leider Recht.
»Nein, wir haben uns ja versöhnt, Bill ist es nicht«,meine ich, muss aber in Gedanken hinzufügen, dass das alles mit Bill angefangen hat.
»Was dann?«,fragt er weiter und sieht zu mir herüber.
Ich beiße mir auf die Lippe.
Yesko weiß noch gar nichts von den seltsamen Vorfällen und ich weiß nicht, ob ich will, dass sich das ändert.
Ich bezweifele nicht, dass er mir glauben würde, aber...irgendetwas hat mich bis jetzt zurückgehalten es ihm zu sagen.
Allerdings verdient er es zu erfahren, da ich nicht glaube, dass das einfach aufhören wird. Und dazu kommt noch, dass es seltsam ist, etwas vor ihm geheim zu halten, da wir normalerweise keine Geheimnisse voreinander haben.
Ich drehe mich auf die Seite, den Blick auf meine Hände gerichtet.
»Weißt du«,beginne ich und sehe dann zu ihm hoch,»Ich hab dir nicht ganz die Wahrheit gesagt über das, was in der Nacht der Schlägerei passiert ist.«
Yesko zieht die Augenbrauen leicht zusammen.
»Was meinst du mit 'nicht ganz die Wahrheit'?«
Ich kaue wieder nervös auf meiner Lippe.
»Die drei Jungs liegen nicht im Koma, weil die Lampe dort einen Kurzschluss hatte. Das war ich«,erkläre ich, wobei mir der letzte Satz nur zögerlich und leise über die Lippen kommt. Es ist schmerzlich es selbst so deutlich zu sagen, da ich die Schuld nun wieder deutlich spüre. Yesko sieht mich an, als hätte ich den Verstand verloren.
»Miena, das ist völlig absurd, du könntest niemals-«
»Offensichtlich doch«,unterbreche ich ihn, bevor er fortfahren kann. Er sieht mich nur irritiert an. Ich seufze und setze mich auf.
»Hör zu, es mag vielleicht alles unglaublich seltsam klingen, das weiß ich selbst, aber es ist wahr.«
»Aber wie sollst du denn bitte drei Jungs ins Koma befördern?«,fragt er immer noch misstrauisch. Eine meiner Hände fährt unruhig in meine Haare.
»Ich weiß auch nicht wirklich was es war, es...«
Ich verstumme. Ich weiß ja selbst nicht mal was es ist, wie soll ich es da jemand anderem erklären?
»Miena«,zieht mein Bruder mit bestimmtem Ton wieder meine Aufmerksamkeit auf sich,»Was ist mit den Jungs passiert?«
Die nächste halbe Stunde erzähle ich Yesko alles, was bis jetzt passiert ist. Nachdem ich ihm das die ganze Woche seit der Schlägerei verschwiegen habe, sprudelt es jetzt nur so aus mir heraus.
Ich lasse kein Detail aus, während mir mein Bruder zunächst skeptisch, dann aber interessiert zuhört.
»Also sozusagen bist du jetzt ein seltsamer Freak mit Superkräften«,fasst der Junge schließlich scherzend zusammen, als ich meine Zusammenfassung der letzten Woche beendet habe.
»Yesko das ist nicht witzig, das scheint eine ernste Kiste zu sein«,jammere ich.
»Ich hab drei Jungs ins Koma befördert, von denen man noch nicht einmal weiß, ob sie überhaupt wieder aufwachen. Was wenn das wieder passiert? Wir wissen doch, dass ich es nicht kontrollieren kann!«
Meine Stimme wird leiser, während ich das sage, dann seufze ich auf und lasse meinen Kopf in meine Hände sinken. Yesko legt sanft eine Hand auf meinen Rücken und fährt darüber.
»Das wird sich alles klären, du wirst es kontrollieren lernen. Und bis dahin versuchen wir dich einfach nicht aufzuregen«
»Du sagst das so leicht. In letzter Zeit fühl ich mich so reizbar wie...keine Ahnung, ziemlich reizbar eben«,entgegne ich und hebe den Kopf wieder, um ihn in seine Richtung zu drehen. Yesko lacht leicht.
»Du warst noch nie gut darin Vergleiche aufzustellen«,grinst er. Ich stöhne auf und lasse mich zurück zu ihm auf die Matratze sinken.
»Hey, alles wird wieder normal werden«,redet er auf mich ein, als er anscheinend meine Verzweiflung sieht.
»Ich weiß nicht«,meine ich missmutig,»Zur Zeit fühlt es sich nicht so an.«
Er schweigt kurz, ehe ein Lächeln auf seine Lippen tritt.
»Was hat Grandma immer gesagt?«
»Football-Spieler sind nichts als hirnlose Vollidioten und durchgeknallte Spinner?«
Er lacht.
»Nein, das meine ich nicht. Sie hat immer gesagt 'Das Leben geht weiter, Kinder'.«
»Ja, als wir Fußball gespielt haben und einer von uns enttäuscht war, weil nicht er das Tor geschossen hat«,entgegne ich augenrollend, aber leicht grinsend bei der Erinnerung an Grandma.
»Denkst du nicht, dass das was ganz Anderes ist, als wenn man plötzlich ein 'seltsamer Freak mit Superkräften' ist?«
»Mhh, nein, nein ich denke Grandma's Spruch ist hier trotzdem anwendbar«,grinst mein Bruder,»Und damit das klar ist: ich konnte nie ein Tor schießen, weil du mir den Ball immer nicht zugespielt hast!«
Ich schmunzele und sehe auf meine Hände hinunter.
»Danke, Yesko«,murmele ich dann und sehe wieder zu ihm hoch.
»Für was?«,fragt er lächelnd. Ich zucke leicht die Schultern.
»Mich nicht für verrückt erklären?«,grinse ich und er lacht.
»Wir sind Zwillinge Miena, es ist meine Aufgabe dir den verrücktesten Scheiß abzukaufen.«
Ich seufze nur und schlinge dann die Arme um die Mitte meines Bruders, um ihn in eine Umarmung zu ziehen, die er sanft erwidert.
»Happy Birthday, Yesko«,murmele ich in sein Shirt und muss leicht lächeln. Als ich meine Umarmung löse und ihn wieder ansehe, tritt ein breites Grinsen auf mein Gesicht.
»Hat dir Ella schon gratuliert?«,frage ich und ziehe grinsend eine Augenbraue hoch, woraufhin er die Augen verdreht. Ich werfe ihm einen drängenden Blick zu.
»Ja, heute Nacht«,murmelt er seufzend und ich kann nicht anders, als noch breiter zu grinsen.
»Was läuft da zwischen euch?«,hake ich weiter neugierig nach. Er mustert mich kurz prüfend, wohl abwägend, ob es etwas bringen würde abzuweisen. Anscheinend sieht er aber ein, dass ich nicht locker lassen würde, denn er rückt ohne weitere Nachfrage mit der Sprache heraus.
»Ich weiß es nicht. Wir haben noch nicht wirklich darüber geredet. Aber es fühlt sich gut an.«
Bei dem letzten Satz tritt ein leichtes Lächeln auf sein Gesicht.
»Heilige Maria dich hat es wirklich erwischt«,grinse ich und stoße ihn an der Schulter an. Er rollt nur erneut grinsend mit den Augen.
»Jetzt mach nicht so ein großes Ding daraus«,meint er schmunzelnd.
»Zu spät«,grinse ich und er will gerade etwas erwidern, als sich meine Tür wieder öffnet. Yesko und ich wenden beinahe perfekt synchron den Kopf in Richtung des Geräusches, als Mum auch schon beginnt zu singen.
»Happy Birthday to you«
Mein Bruder und ich grinsen uns leicht an, während Mum mit dem Kuchen in der Hand ins Zimmer kommt, Dad im Schlepptau.
»Happy Birthday dear Yesko and Miena«
Wir lachen, als sie, wie jedes Jahr, versucht beide Namen in den Text zu bekommen.
»Happy Birthday to you«
Wir applaudieren lachend, als sie geendet hat und vor meinem Bett zum Stehen gekommen ist.
»Los, Kerzen auspusten! Und vergesst nicht euch was zu wünschen.«
Ein warmes Lächeln liegt auf ihrem Gesicht.
In dem Kuchen stecken vierunddreißig brennende Kerzen. Siebzehn rechts, siebzehn links, wie jedes Jahr. Irgendwann werden sie nicht mehr auf den Kuchen passen.
Yesko und ich grinsen uns kurz an, ehe sich jeder zu seiner Seite beugt. Yesko pustet neben mir seine Kerzen aus, während ich einen Moment überlege, was ich mir wünschen soll.
Bitte lass alles bald wieder normal werden, wünsche ich mir schließlich still.
Dann hole ich tief Luft und puste alle Kerzen auf einmal aus. Wie jedes Jahr.

Die Bluthexen I - Denn Blut ist gefährlichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt