Einundzwanzig

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Glücklicherweise habe ich die dritte Wache bekommen, sodass ich zumindest ein paar Stunden durchschlafen kann, bevor Keith mich aufweckt.
Meine Glieder schmerzen durch die unbequeme Isomatte, sowie die langen Autofahrten zuvor. Der harte Stein, auf dem ich mich gesetzt habe, nachdem ich die Matte an Keith abgetreten habe, macht es nicht besser.
Von meinem Platz aus kann ich die ganze Halle überblicken, die sich langsam aber stetig mit dämmrigen Morgenlicht füllt, was durch die milchigen Fenster unterm Dach dringt.
Mehrmals fallen mir fast die Augen zu, doch sofort wenn ein Ast draußen an einem der Fenstergläser schabt oder das Grundgerüst des alten Gebäudes ächzt, bin ich wieder wach.
Trotz dessen, dass ich mehrere Stunden geschlafen habe, war der Schlaf nicht wirklich erholsam. Ich fühl mich fast noch ausgelaugter als zuvor.
Keith scheint es ähnlich zu gehen, denn er schläft nicht lange, bis er sich nur noch auf der Isomatte herumwälzt und schließlich seufzend die Augen aufschlägt und sich aufsetzt.
Ich habe mir mittlerweile die Kapuze über den Kopf gezogen und mich mit dem Rücken gegen die Steinwand hinter mir gelehnt.
»Morgen, Calleigh.«
Ich schmunzele schwach über den Witz.
»Morgen, Ezekiel«,erwidere ich und lege die Arme um meine eigene Taille.
Keith zieht die Beine an den Körper und starrt auf die Stelle, wo vor einer Stunde noch das Feuer brannte.
»Bin gleich wieder da«,meine ich nach einer Weile, in der wir beide geschwiegen haben und stehe auf, um mich vom Lager zu entfernen.
Diesmal gehe ich in eine andere Richtung als das letzte Mal, um die Halle gleichzeitig ein wenig zu erkunden.
Nachdem ich mich erleichtert habe - ich hoffe immer noch, dass es in Dysia richtige Badezimmer geben wird - schlendere ich an einer Wand entlang, die plötzlich durch einen kleinen Türbogen unterbrochen wird.
Ein paar Meter hinter dem Durchgang scheint sich eine weitere Halle auf zu tun.
Ich werfe nur noch einen kurzen Blick dorthin zurück, wo wir unser Lager aufgeschlagen haben, bevor ich mich durch den schmalen Gang schiebe.
Die andere, niedrigere Halle ist mit noch mehr alten Maschinen gefüllt, als die erste.
Ich lasse meinen Blick durch den großen Raum schweifen, die Hände in den Jackentaschen vergraben.
Auch hier sind unterm Dach schmale Fenster eingelassen, manche von ihnen sind zerbrochen, wodurch der blassrosa Morgenhimmel zu sehen ist.
Ein starker Drang erfüllt mich dort hinauf zu klettern, denn genau unter einem der kaputten Fenster steht eine hohe und breite Maschine.
Entscheidungen scheinen mir seit unserem Aufbruch von zuhause so viel einfacher zu fallen, weswegen ich keine zwei Sekunden überlege, bevor ich mich auf den Weg zur anderen Seite der Halle mache.
Es sind nur ungefähr fünf Meter bis zum Fenster und die ehemalige Fabrikmaschine scheint perfekt zum klettern.
Das rostige Metall liegt kalt unter meinen Fingern, als ich beginne hinaufzusteigen.
Die Füße stelle ich in Nischen und Kerben ab, während ich mich an Rohren und Leitungen hinaufziehe.
Der Aufstieg dauert nicht lang.
Als ich mich über die obere Kante schiebe, setze ich meine Hand beinahe in die groben Glasscherben des Fensters.
Dann bin ich oben.
Der Himmel strahlt mir blassblau entgegen, die Wolkenfetzen tragen einen rosaroten Hauch und stehen in großem Kontrast zu den harschen Nadelbäumen darunter.
Vorsichtig laufe ich über die Scherben näher zum Fenster, während ich die Hände wieder in meine Jackentaschen schiebe.
Eine frische Brise strömt mir entgegen und wirbelt die kleinen Härchen an meinem Haaransatz spielerisch herum. Ich fühle mich fast genötigt einen tiefen Atemzug zu nehmen.
Die Luft strömt klar und kühl in meine Lungen, bevor ich sie durch meine leicht geöffneten Lippen wieder entweichen lasse.
Es ist unmöglich die Gedanken an zuhause, die sich zurück in meinen Kopf drängen, wieder von mir zu schieben.
Aber ich kann mir nicht einmal wünschen wieder dort zu sein.
Mum ist tot.
Zuhause würde mich dieser Gedanke bei jedem Schritt wie ein Schatten verfolgen. Hier ist es einfacher es auszublenden, obwohl ich nicht weiß, ob ich es einfach ausblenden sollte und ob ich das überhaupt will.
Ich will den Gedanken an sie nicht ständig ignorieren.
Ich will trauern.
Aber ich kann nicht, nicht jetzt.
Es ist einfach grad viel zu viel los, viel zu viel im Wandel.
Aber ich vermisse sie.
Ich würde sie auch so vermissen.
Doch auch wenn ich jemals nach Ellisville zurückkehren werde, wird sie nicht mehr dort sein.
Sie wird nie mehr sein.
Und ich wünschte ich könnte für Yesko da sein.
Er sollte das nicht allein durchmachen. Keiner von uns sollte das.
Ich wünschte alles wäre wie zuvor, ich wünsche mir nichts mehr als das.
Einfach wieder normal zu sein. Nicht mit Amber in der Bibliothek nach Übereinstimmungen in Mythologie Büchern suchen müssen, nicht mit Bill über etwas komplett Verrücktes streiten, ein normaler Geburtstag.
Ich zucke zusammen als ein Vogel ganz in meiner Nähe laut beginnt zu zwitschern.
Mir mit dem Ärmel meiner Jacke die Tränen aus den Augen streichend, blicke ich kurz über meine Schulter über die Halle.
Ich sollte zurückgehen, bevor Keith denkt es ist etwas passiert.
Noch ein letztes Mal lasse ich meinen Blick über das Bild vor mir schweifen, versuche die ruhige Landschaft in mich aufzunehmen, da fällt mein Blick auf den Platz vor der Halle. Ich bin mir sicher, dass mein Herz nicht nur einen, sondern mehrere Schläge aussetzt.
Der schwarze Wagen.
Als mein Herz weiterschlägt, tut es das hektisch und hart, sodass ich schon glaube das laute Pochen zu hören.
Ich muss sie warnen.
Mit einem langen Schritt bin ich an der Kante und lasse mich schnell auf die Knie fallen, um rückwärts wieder die Maschine herunterzuklettern.
Die scharfen Kanten der Glasscherben zerschneiden meine Knie und Hände, doch ich beachte den Schmerz nicht.
Das letzte Stück lasse ich mich hinunterfallen und lande keuchend auf meinen Füßen, aber eine Verschnaufpause bekommt mein Körper nicht, denn ich sprinte los, sobald ich den Boden berühre.
Quer durch die Halle, durch den schmalen Türbogen.
Mein Herz schlägt so schnell, dass ich denke es müsste sich überschlagen.
»Alysanne! Kei-«,rufe ich, breche aber abrupt ab, als ich in Sichtweite unseres Lagers komme, denn ich bin zu spät.
Ich bleibe wie versteinert stehen.
Der Mann der Mum umgebracht hat, hat Alysanne, die auf dem Boden kniet, grob an dem Kragen ihrer Jacke gepackt und hält ihr ein Messer an die Kehle.
Es ist fast wie ein Deja-Vue.
Keith ist in der gleichen ausweglosen Situation und hinter ihnen steht auch noch ein dritter Mann.
Für eine lange Sekunde scheint die Zeit stillzustehen. Alle Augenpaare sind auf mich gerichtet.
Dann öffnet sich Alysannes Mund zu einem einzigen stummen Wort.
Lauf.
Vielleicht ist es feige, aber das ist mir egal.
Ich will laufen. Wegrennen.
Doch bevor meine Beine auch nur mehr als einen Schritt machen können schließt sich ein schmerzhaft starker Griff um meinen Oberarm und an meine Kehle legt sich eine kalte Klinge. Ich wage keinen einzigen Atemzug, obwohl mein schnell schlagendes Herz nach mehr Sauerstoff verlangt.
»So sieht man sich wieder«, raunt die Person in der Nähe meines Ohrs, wobei mich ihr unangenehm heißer Atem streift.
Die Stimme hat mich mehr als einmal in meinen Träumen verfolgt, so dass ich keine Sekunde brauche sie zuzuordnen.
»Bring sie hier her, Conner«,kommt die Stimme von dem Mann im Hintergrund.
Der Griff um meinen Arm verstärkt sich nur noch mehr und ich werde gezwungen vorwärts zu gehen.
In mir kämpfen so viele Gefühle miteinander, dass ich nicht weiß, ob ich kurz davor bin in Tränen auszubrechen, mich zu übergeben oder bewusstlos zu werden.
Vielleicht alles in dieser Reihenfolge.
Je näher ich dem Mann komme, desto größer wird mein Unwillen, doch Conners starker Griff und der Dolch an meiner Kehle lassen mir keine andere Wahl, als einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Keiths Blick ist grimmig und undurchdringlich, als ich zu ihm sehe.
Alysanne begegnet mir ebenfalls mit einem unerschrockenen Blick trotz des Messer an ihrer Kehle und gibt mir noch mehr das Gefühl, dass ich die einzige hier bin, die Todesangst verspürt.
Ein paar wenige Meter von den anderen entfernt halten wir an, während der Mann aus dem Hintergrund auf uns zukommt.
Seine bloße Präsenz strahlt Authorität aus, weswegen ich mir sicher bin, dass er die Gruppe anführt. Er ist nicht einmal so groß, kleiner als Keith, aber dennoch größer als ich und wahrscheinlich um ein Vielfaches stärker.
Für die Authorität, die er ausstrahlt, sieht er jedoch noch ziemlich jung aus.
Die Hand locker, fast verspottend gelassen auf dem Griff des Dolches an seiner Seite abgelegt, bleibt er vor mir stehen, das Gesicht zu keiner Miene verzogen.
Ich versuche ihn ebenso hart anzusehen wie Alysanne und Keith, doch ich bezweifele, dass es auch nur in irgendeiner Weise funktioniert.
Ein leichtes Schmunzeln - nun wirklich spöttisch - huscht über seine Lippen, während er grob mein Kinn zwischen die Finger nimmt, um meinen Kopf achtlos nach links und rechts zu drehen, so als würde er einen Esel betrachten, abwägend, was er ihn kosten würde.
Ich kann nichts anderes machen, als ihn mit den Augen zu verfolgen.
»Ich hätte mir mehr von Cassana Perez's Tochter versprochen«,brummt er dann abwertend und lässt mein Kinn ebenso grob wieder los.
Ich spüre ein leichtes Ziepen und Brennen am Hals. Durch die harsche Bewegung schneidet mir Conners Messer leicht in die empfindliche Haut an meiner Kehle. Seine Aussage löst Wut in mir aus, doch ich beiße nur die Zähne zusammen.
Meine Augen folgen dem Mann, während er zurück zu Alysanne geht. Dabei begegne ich Keiths Blick, der erstmals wirklich überrascht scheint, obwohl man es fast schon mehr als schockiert bezeichnen kann.
Scheinbar spielte meine leibliche Mutter eine größere Rolle in der Wesenwelt, als ich bisher weiß.
Ich ignoriere den Blick und lenke meine Aufmerksamkeit auf Alysanne und den Anführer, ein ungutes Gefühl im Magen. Erst jetzt sehe ich, dass sie sich die Seite hält. Zwischen ihren Fingern schimmert dunkelrotes Blut hervor.
Das vermindert unsere Chancen hier lebend herauszukommen erheblich.
»Du weißt, dass ich dir nichts erzählen werde, Marek«,knurrt die rothaarige Bluthexe. Der Anführer, Marek, hingegen schnaubt nur verächtlich.
Warum benutzt Alysanne nicht einfach Magie?
»Wieso tust du das?«,murmele ich leise an Conner gewandt. Ich muss es einfach wissen.
Warum haben sie ihn nicht getötet?
»Du hast meine Freunde umgebracht und mich auch fast, denkst du du kommst damit einfach durch?«,entgegnet der Junge nah an meinem Ohr, leise aber hart, beinahe schon drohend.
Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken und ich verziehe kurz das Gesicht, als durch eine kleine Bewegung eine Schmerzenswelle von meinen Knien ausgeht.
Marek redet immer noch scharf auf Alysanne ein.
»Sie haben sie umgebracht«,zische ich,»Die Lyceray haben sie umgebracht.«
»Es musste sein, es wäre aber nicht passiert wärst du nicht gewesen.«
Die Worte klingen hart, aber wahr und ich kann ihm nicht einmal widersprechen.
»Wie ich gehört habe, bist du aber auch nicht nur für diese Toten verantwortlich«,fügt der Junge hinzu und ich höre das fiese Grinsen aus seiner Stimme förmlich heraus.
Übelkeit ballt sich in meinem Magen zusammen.
Ich erwidere nichts.
Ich kann nicht.
Stark zucke ich zusammen bei der harten Stimme von Marek.
»Dann kann ich hier nichts mehr für dich tun.«
Alysanne schnaubt abschätzig und schaut ihn von unten herauf an. »Als hättest du das je-«
Noch bevor sie den Satz beenden kann nickt Marek dem Mann hinter Alysanne zu, dessen Dolch sich augenblicklich in ihrem Hals versenkt und ihre Stimme abbrechen lässt. Schrecken vermischt mit Schmerz zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab, ehe ihr Körper auf dem Boden zusammensackt.
Mein Mund klappt auf, doch weder ich noch Keith bringen ein Wort heraus.
Die plötzliche Stille rauscht in meinen Ohren.
Ein unerwartetes Schluchzen bricht aus mir heraus, als Conners Finger sich schmerzhaft in meinen Arm graben, während die scharfe Klinge gegen meinen eigenen Hals drückt. Vor meinem inneren Auge sehe ich Mum auf dem Rasen hinterm Haus liegen, den Kragen ihres Kleides in Blut getränkt.
»Erledigt ihr das hier?«
Die Stimme holt mich zurück in die Gegenwart und ich versuche verzweifelt gegen Conners Arme anzukämpfen, doch es scheint ihn nicht einmal zu interessieren.
»Noch irgendwelche letzten Worte, Hexe?«,knurrt Conner grinsend in mein Ohr, die Klinge stärker gegen meinen Hals drückend.
»Keith, runter«,bringe ich angestrengt heraus und sehe zu dem hageren Jungen, der sich ebenfalls gegen seinen Angreifer versucht zu wehren.
Unsere Augen begegnen sich nur für einen kurzen Moment in stiller Verständigung, ehe er sich mit all seiner Kraft losreißt, um flach zu Boden zu stürzen.
Dann bricht der Schrei aus mir heraus.
Und mit ihm das Feuer.

Die Bluthexen I - Denn Blut ist gefährlichHikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin